“Jedenfalls glaube ich, dass jetzt genug gefaselt wurde. Ich gehe, hab schließlich noch was anderes zu tun.”
“Grüß Kitty von mir!”
“Was willst du von Kitty?”
“Abwarten – aber eigentlich rein gar nichts.”
Er nimmt jeden Morgen seinen Stamm-Sitzplatz ein: in der Mitte einer langen Sitzreihe, mit dem Rücken zum Fenster, dort wo die im Berufsverkehr später zusteigende, sehr hektische Laufkundschaft am wenigsten stört. Wo er einsteigt, in Hönow, da kann er noch wählen, wo genau er sitzen will – oder neben wem. Doch ihn selbst, Andy, soll früh morgens bloß keiner wagen anzusprechen. So jedenfalls ist das lange Zeit tagein, tagaus gegangen, ohne dass ihn irgend eine Person auch nur im entferntesten näher interessiert hätte.
Dann passierte es: Zum ersten Mal sah er sie in der U-Bahn, ja morgens, Richtung Alexanderplatz. Sie stieg an der Haltestelle Samariterstraße ein und setzte sich direkt ihm gegenüber hin – auf der anderen Fensterreihe. Nichts besonderes eigentlich. Eine schöne Frau wie viele andere auch. Er schaute sie kurz an, dann wichen seine Augen den ihren aus und streiften die sehr viel weniger interessanten Kacheln des U-Bahnhofes entlang. Sie stieg nach nur zwei Haltestellen wieder aus.
Am folgenden Tag war sie wieder in seinem Abteil; diesmal weiter entfernt und vor der Tür stehend. Sie schien ihn nicht wahrzunehmen. So konnte er sie in Ruhe beobachten, sogar eingehend betrachten. Sie war wirklich schön. Das waren zwar einige. Aber irgendwas hatte sie, was er bei andern jungen Frauen noch nicht gesehen hatte – jedenfalls schon lange nicht mehr. Als sie ausstieg, trafen sich ihre Augen kurz, mehr nicht – und nichts besonderes in U-Bahnen, wo sich aller Leute Augen zwangsläufig einmal treffen müssen.
Sie war jetzt jeden Tag in seiner U-Bahn. Jeden Morgen um die gleiche Zeit. Manchmal sah er sie nur von weitem, manchmal saß sie in seiner Nähe. Nie aber wieder ihm direkt gegenüber. Weitere Tage vergingen, Wochen folgten. Auf den Herbst folgte der Winter – und dieser sorgte komischerweise jedes Jahr dafür, dass die U-Bahnen mit jedem Haltepunkt immer voller wurden. Sie bekam auf einmal keinen Sitzplatz mehr und stand ab da ständig vor der Tür; wollte ja sowieso immer nach kurzer Strecke aussteigen. Manchmal war ihm, als ob sie zu ihm herschaute. Er versuchte einmal zu lächeln. Aber die Reaktion war negativ und das verunsicherte ihn. Die kommenden Tage ignorierte er sie, als ob er sich an ihr rächen wollte und könnte.
Dann folgte dieser Montag, an dem Andy morgens in aller Frühe bereits müde war wie sonst nur abends am letzten Tag der Woche. Ob das wohl an Saschas alias Paschas Geburtstag lag, der nicht enden wollte? Andy saß in der U-Bahn, seiner U-Bahn, ihrer inzwischen fast gemeinsamen U-Bahn, und döste vor sich hin. Er träumte, er musste träumen, weil er in seinem Zustand höchstens träumen konnte. Er sah dabei in die Augen einer wunderbaren Frau und sah auch sich selbst wie selbstverständlich lächeln. Er beherrschte auf einmal etwas, was er an anderen – vor allem bei seinen Freunden – bisher immer beneidet hatte. Er genoss seine Lage und kam sich toll vor. Die schöne Frau lächelte zurück, beider Augen trafen sich und blieben aufeinander haften.
Schlagartig wurde Andy bewusst, dass er gar nicht träumte. Er schaute wirklich in die Augen einer schönen Frau, der schönen Frau schlechthin, dieser Frau, die ihm jetzt schon täglich auffiel. Und er wurde nicht einmal rot, und er musste auch nicht wegschauen, um es zu verhindern. Und beide mussten plötzlich herzhaft lachen, nicht laut, nur jeweils für sich, andere Leute bekamen überhaupt nichts mit. Aber dieser Moment schenkte Andy die beste Laune, die er sich nur für diesen Tag hätte wünschen können.
Aus irgendeinem Grund hielt die U-Bahn länger als sonst an der Samariterstraße – wer weiß, wie viel Zeit das schon gekostet hat. Andy träumte wieder. Danach mussten die Augen von Mann und Frau sich voneinander gelöst haben, denn die schönste aller U-Bahn-Frauen war nicht mehr da, als er aufwachte. Klar, ihre gewohnte Haltestelle war bereits passiert worden. Zu dumm auch! Ob er sie jemals wiedersehen wird? Klar wird er, wenn nicht morgen, dann übermorgen: am selben Ort, zur selben Zeit.
Missmutig schmeißt sich Leutnant S. auf seine Matratze. S. wie Starlinberg (vom Vornamen ganz zu schweigen, den kann er hier sowieso vergessen). Aber sie werden – irgendwo im nördlichen Teil des Bezirks Cottbus – alle nur mit Rang und Initial angeredet. Bei Dopplungen gibt’s zusätzlich Nummern, jedoch erst ab der zweiten Person mit dem gleichen Anfangsbuchstaben, die zur Einheit kommt. Drei von zwanzig Lexikon-Bänden fangen mit “S” an, aber hier war er eigenartiger Weise zuerst da. Also hat er, S., keine Nummer. Und er ist im gemeinsamen Quartier wegen seiner Zuverlässigkeit nach wie vor der erste. Ansonsten gibt es hier inzwischen einen weiteren S., und der heißt folgerichtig S. II. Warum bis heute keine Decknamen eingeführt worden sind, weiß keiner genau. Wohl weil sich Elite-Einzelkämpfer im freien Feld sowieso nie treffen sollen; da braucht’s dann auch keine weiteren Bezeichnungen.
Auf Übung hätte er heute gehen sollen, S. – aber nein, Leutnant D. III war plötzlich dran. An sich ist S. froh, nicht ausrücken zu müssen. Und Befehl ist zudem Befehl; nur nicht groß auffallen! Aber früher sagen hätten sie’s ihm können.
Still ist es geworden, auch die anderen aus dem Quartier haben noch eine Aufgabe erhalten. Jedenfalls für heute. Und wann die einzelnen zurückkehren, ist zuvor nie bekannt. Keiner weiß von keinem. Wahrscheinlich heißen sie deswegen Solitäre.
S. geht zu seinem Spint, er hat sich etwas zu essen drin aufgehoben. Manchmal ist es einfach besser, mit viel Zeit richtig satt zu werden. Das Essen ist nach der Ausbildung besser geworden. Außerdem hat die Schlamm-Robberei aufgehört; jedenfalls fast: Es kann schon noch ab und zu vorkommen, dass er durch den Morast muss. Aber dann hat er ihn sich selbst ausgesucht, weil es nach seinem eigenen Gutdünken bei einem Auftrag keinen anderen Weg gibt. Gehorsam wird bei ihnen im Gegensatz zum Rest des Volkes nicht beaufsichtigt. Kann er gar nicht: Selbst der Marxismus-Leninismus muss bei Einzelkämpfern Vertrauen üben.
Zum Leutnant wurde S. gemacht, als er ankam – wie alle, die es hierher geschafft haben. Oder noch vom alten Verteidigungsminister Hoffmann in Ostberlin höchstpersönlich ausgesucht worden sind und dann gar keine andere Chance mehr hatten, als “Karriere” zu machen.
Das ist schon eine komische Elitetruppe. Eigentlich gar keine richtige Truppe. Das sozialistische und brüderliche Miteinander ist nicht gefragt. Was zählt, ist bedingungsloser Gehorsam gegenüber einem personbezogenen Großauftrag – und zwar draußen, in der Einsamkeit, wenn kein anderer mehr irgendwas am Kleinkram der Ausführung noch kontrollieren kann. Dafür, für diese Art Gehorsam, gibt es Vergünstigungen – die nur selten wirklich zu nutzen sind.
Die Tür geht auf. Major Zitzsche steht im Rahmen. Den hat S. schon ewig nicht mehr gesehen. Ob der sich auf einer seiner Touren im Wald verirrt hatte?
“Leutnant S., sind Sie bereit?” Das “Sie” ist unter den Solitären häufiger anzutreffen als sonst im ach so brüderlichen Sozialismus – auch öfter als in der “normalen” NVA; da schwingt wohl ein eigentlich verbotenes elitäres Selbstbewusstsein mit eine Rolle.
“Allzeit bereit!” S. muss schmunzeln, als “Freier Deutscher Jugendlicher” fühlt er sich doch nicht mehr ganz.
“Gut – mitkommen!”
Innerhalb von Sekunden sitzen sie gemeinsam im Geländewagen sowjetischer Bauart. Körperlich fit ist er ja, denkt sich S., sehr fit. Immerhin ist der Major schon 49, hat einiges hinter sich. Springt aber rum wie einer von der Militärsportschule. Der wäre mir gleichauf, wenn’s drauf ankäme. Was will er bloß? Jetzt, wo alle anderen bereits weg sind?
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