P.S. Ich lege Dir weiterhin Geheimhaltung ans Herz; sag mir auch, ob es Dir möglich wäre, über den 18. März hinaus in Florenz zu bleiben. Denn es stimmt zwar, daß er [Lanari] andere Bässe[294] hat, aber wenn die Oper mit Dir aufgeführt wird, muß man sie auch mit Dir weiterspielen.[295]
Am 3. September ist anscheinend noch immer nichts entschieden.
Man weiß nichts Endgültiges wegen Florenz, innerhalb der nächsten Woche wird alles vorbei [= entschieden] sein. Entweder wird Fraschini da sein und er [Verdi] wird deshalb die Masnadieri machen, oder er wird nicht da sein, dann wird er den Macbeth mit Varesi machen, was besser wäre, weil es ein Stoff ist, den die ganze Welt kennt. [...][296]
Die letztere Bemerkung Muzios über den Macbeth dürfte aus dem Munde des signor Maestro stammen, denn Muzio hat das Drama wohl kaum gekannt (vgl. seinen Brief vom 27. August 1846, in dem er die Cordelia in diesem Stück vermutet). Am Vortag hat Verdi Piave aber bereits ein Exposé des Macbeth angekündigt.
Morgen oder übermorgen schicke ich Dir das Exposé des Macbeth. Ich lege ihn Dir aus ganzer Seele ans Herz!...[297]
Eine solche Formulierung ist für Verdi ungewöhnlich und weist darauf hin, daß er inzwischen – unabhängig von Lanaris Antwort – zum Macbeth tendiert.
I
m Italien des 17. und 18. Jahrhunderts war Shakespeare als Lieferant von Vorlagen für Opern nicht sonderlich gefragt gewesen. Die italienische Shakespeare-Rezeption lief vorwiegend über französische Übersetzungen wie jene von Jean François Ducis, die nur wenigen Spezialisten bekannt waren. Aus diesem Grund wurde im 18. Jahrhundert in Italien Shakespeares Bedeutung kaum erkannt. Zu ersten Übersetzungen seiner Theaterstücke kam es, als italienische Dichter und Schriftsteller Dramen Shakespeares in England auf der Bühne sahen und dadurch zu Übersetzungen angeregt wurden. Paolo Rolli fertigte 1739 eine Übersetzung des Hamlet-Monologs „To be or not to be“ an. Sie war die erste in Italien veröffentlichte Shakespeare-Übersetzung. In weiterer Folge erschienen Übersetzungen vollständiger Dramen, darunter 1798 erstmals der Macbeth .
Ein Wendepunkt in der Shakespeare-Rezeption in Italien war das Einsetzen der italienischen Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wobei Autoren wie der von Verdi bewunderte Schriftsteller Alessandro Manzoni und der Freiheitskämpfer Giuseppe Mazzini mit ihren Schriften wesentlich zur Verbreitung und zum Verständnis des englischen Dramatikers beitrugen. Nun erschienen in kurzer Folge verschiedene Sammlungen wie Tragedie di Shakespeare von Michele Leoni (14 Bände, 1819-1822) sowie Übersetzungen einzelner Dramen, darunter die Prosaübersetzung des Macbeth von Virginio Soncini (1830). Erst 1838 erschien die erste Shakespeare-Gesamtausgabe von Carlo Rusconi. Auch sie bestand aus Prosaübersetzungen.
Verdi ist zu dieser Zeit unter Italiens Musikern der beste und höchstwahrscheinlich einzige Shakespeare-Kenner. Trotz der allmählich einsetzenden Popularität Shakespeares hat in den 1840er und 1850er Jahren kein anderer italienischer Komponist ein Stück des Engländers als Vorlage für eine Oper in Betracht gezogen. Rossinis Otello kam dreißig Jahre zuvor heraus (1816), und die Shakespeare-Opern von Saverio Mercadante ( Amleto , 1822), Nicola Vaccaj ( Giulietta e Romeo , 1825) und Vincenzo Bellini ( I Capuleti e i Montecchi , 1830) liegen ebenfalls schon länger zurück. Eine Ausnahme (Angelo Zanardinis Amleto , 1854) bestätigt die Regel.
D
er Macbeth -Stoff kommt Verdis Intentionen entgegen: Er strebt eine von Shakespeares Kunst inspirierte, tiefergehende Figurenpsychologie und Darstellung des gesamten Spektrums menschlicher Gefühle und Schwächen sowie die Herausarbeitung des Gegensatzes zwischen Individualität und gesellschaftlichen Konventionen an, anders als das in den Opern seiner Kollegen Rossini, Bellini, Donizetti, Pacini oder Mercadante der Fall ist.
Zwischen dem großen englischen Dramatiker, den Verdi „Papa Shakespeare“ nennt[298], und dem Komponisten besteht eine grundlegende psychologische Affinität: Beide bringen in ihren Arbeiten nicht ihre subjektiven Gefühle zum Ausdruck, sondern einzig und allein die Befindlichkeiten ihrer Figuren. Bei beiden ist es unmöglich, im Text und im Subtext die persönliche Haltung des Autors wiederzufinden. Und was die beiden Ausnahmekünstler darüber hinaus verbindet: Sie zielen auf eine realistische Darstellung ihrer Bühnengestalten ab.
Die Macbeth -Tragödie, das bei weitestem kürzeste von Shakespeares Dramen, handelt von einer dominanten, ehrgeizigen, skrupellosen, ihrem Mann überlegenen, in Sigmund Freuds Sicht entgegen der der Shakespeare-Vorlage und der historischen Realität unfruchtbaren Frau[299] (Gruoch, die historische Lady Macbeth, hatte einen Sohn aus erster Ehe), und von ihrem Gatten, einem schwächlichen, unentschlossenen, seiner Frau hörigen Karrieristen. Der englische Dramatiker zeigt eine Ehe voll negativer Abhängigkeiten und seelischer Krankheitsbilder. Verdi, der die dem Wohlklang und der Virtuosität des Gesangs verbundenen Opernkonventionen und ästhetischen Ideale seiner erwähnten Kollegen überwinden, sie mit Wahrhaftigkeit durchsetzen und psychologisch glaubhaft machen will, sieht in dem Drama einen für realistische negative musikalische Farben und Tonfälle hervorragend geeigneten Stoff, und zwar aus mehreren Gründen:
Erstens enthält er keine Liebesgeschichte mit der typischen Konstellation Sopran-Tenor und dem Bariton als Antagonisten oder Vater, was eine radikale Abkehr von der klassischen Dreieckssituation der italienischen Oper bedeutet, und zweitens entfernt er sich von den Prinzipien der italienischen Gesangsoper, die – selbst in vielen Fällen der dem beliebten Opernwahnsinn verfallenen Protagonistinnen – der musikalischen Gestaltung intakter Gefühle verpflichtet ist. Für die Darstellung der kranken Psyche ist für Verdi aber auf Virtuosität und Wohlklang ausgerichteter Gesang undenkbar. Er steht vor der Aufgabe, die Korrumpierung des Menschen durch hemmungsloses Machtstreben, die Pervertierung aller natürlichen Gefühle, die blutrünstige Skrupellosigkeit, die Zerstörung der Seele der Lady, die unbewältigten Schuldgefühle, all das, was mit den bisher in der italienischen Oper eingesetzten gesanglichen Mitteln kaum überzeugend darstellbar war, realistisch zu komponieren.
Ein Wagnis und eine Neuerung: Das libretto in prosa
M
acbeth ist in diesem kulturellen Klima ein Unikum ebenso wie ein Wagnis. Ein Wagnis deshalb, weil Verdi, der Englisch nicht spricht oder liest, in seinem Bestreben, eine Erneuerung der Oper herbeizuführen, auf die sprachlich schwerfällige, nicht gerade erstklassige Prosa-Übertragung von Carlo Rusconi angewiesen ist. Sie ist zudem mehr eine Bearbeitung als eine Übersetzung: Rusconi hat nicht nur Szenen umgestellt, sondern den Shakespeare-Text eigenmächtig gekürzt und ergänzt.
Um aus einem solchen Text ein gutes und für die Komposition geeignetes Libretto herzustellen, bedarf es einer erfahrenen Hand, die nicht nur die Vorstellungen des Komponisten, sondern auch die Erfordernisse und Möglichkeiten der Opernbühne genau kennt. Dabei kommt eine neue Lösung zum Tragen, denn es handelt sich um Verdis eigene, geschickt disponierende Hand. Beim Macbeth praktiziert der Komponist erstmals jene Vorgangsweise des libretto in prosa , die er bis zur Aida (1871) beibehalten und vervollkommnen wird. Er erstellt nicht etwa für seinen Librettisten nur ein Szenario der neuen Oper, sondern fertigt von eigener Hand ein komplett ausgearbeitetes Prosalibretto an, das sein Textdichter nur mehr entsprechend seinen metrischen Vorgaben und sonstigen Wünschen zu versifizieren hat.[300]
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