„Deshalb hast du ihr auch dieses Tagebuch geradezu unter die Nase gehalten.“
„Verzeiht, Herrin, wenn euch das verstimmt hat.“
„Es war eine riesige Dummheit. Aber das wolltest du mir jetzt wohl nicht sagen, oder?“
„Äh.. nein. Also, ich habe mir natürlich Sorgen um Sara gemacht. Sie kannte ja nichts außer dem Tempel und ich war mir nicht sicher, wie gut sie draußen zurechtkommt. Also habe ich Menrir gebeten, mich auf dem Laufenden zu halten.“
„Warum erzählst du mir das alles?“ Lennys sah den alten Baramon scharf an.
„Nun, Menrir schreibt hier, dass... dass er nicht weiß, wo Sara jetzt ist. Er hat sie getroffen, kurz nachdem ihr mit den hohen Cas ausgezogen seid, aber dann ist sie wohl ihre eigenen Wege gegangen. Seitdem ist sie verschwunden.“
„Ich verstehe.“ Mehr sagte Lennys nicht dazu. Nur hatte Baramon jetzt den Eindruck, dass sie noch kälter und abweisender wurde, als ohnehin schon. Er war klug genug, es dabei zu belassen und nicht weiter auf das Thema einzugehen.
Aus der Ferne hörten sie eine Reitergruppe nahen. Die Cas hatten sie also eingeholt.
„Ich will, dass du in den Tempel zurückkehrst.“ befahl Lennys, während sie dem Mondhengst ein Zeichen gab, woraufhin er gehorsam auf sie zutrottete. „Finde heraus, ob Iandal noch dort ist und wenn nicht, wirst du so tun, als ob du von deinem Krankenbesuch zurück seist. Und dann wirst du herausfinden, was Iandal wollte. Mit wem er gesprochen hat und was er dabei erfahren hat. Ich will alles wissen, verstanden?“
„Sehr wohl, Herrin. Und... und wenn jemand misstrauisch wird?“
„Dann lässt du dir etwas einfallen.“
„Möchtet ihr denn gar nicht wissen, wo Iandal als nächstes hingegangen ist?“
Lennys schnaubte verächtlich.
„So dumm ist nicht mal er, dass er das überall herumposaunen würde. Aber natürlich wirst du mich informieren, wenn du doch etwas hören solltest.“
„Natürlich.“
„Und noch etwas! Du wirst mit niemandem – hörst du – niemandem! - über diese Sache sprechen. Weder über Menrirs Nachricht, noch über das, was du jetzt für einen Auftrag hast. Keine Ausnahmen!“
„Wie ihr wünscht. Und wenn ich anderweitig etwas von Menrir oder über Sara....“
„Dann wirst du mich auf dem Laufenden halten! Ohne Verzögerung! Wie gut ist dein Kontakt zu Eskjat zur Zeit?“
„Er sucht mich so oft wie möglich auf. Er will auch kein Gold mehr für seine Dienste, er sagt, es sei ihm eine Ehre, weil sein Leben nun endlich einen Sinn hätte. Er meint, er käme schon irgendwie zurecht. Im Augenblick ist er auf dem Rückweg nach Gahl, um dort Neuigkeiten aus Cycalas zu erfahren.“
Lennys holte einen Beutel aus einer ihrer Umhangtaschen und warf ihn Baramon zu.
„Gib ihm das. Er soll es annehmen, ich will nicht, dass einer unserer letzten verbliebenen Boten am Ende wegen Diebstahls im Kerker landet, nur weil er Hunger hat.“
„Wo ist er denn?“ fragte Sham-Yu ein wenig enttäuscht, als er und seine Kampfesgefährten den Bach erreichten, an dem Lennys wartete. „Rahor, wo ist dieser Baramon?“
„Er war eben noch hier....“
„So....“ Lennys Unterton war beängstigend. „Du hast also nichts Besseres zu tun, als überall breitzutreten, mit wem ich mich unterhalte?“
Rahor wurde erst blass, dann errötete er.
„Bist du immer so verschwiegen, wenn es darauf ankommt?“
„Nein... also... ich wollte nur....“
„Du wirst mir den Rest des Tages aus den Augen gehen und den Mund halten! Und die Zeit dazu nutzen, darüber nachzudenken, was ich von meinen Cas erwarte! Besonders von ihrem Anführer!!!“
Mit jedem Wort wurde sie noch ein wenig lauter und zorniger und unwillkürlich zogen alle die Köpfe ein. „Und dann, Rahor, wirst du weiter nachdenken und zwar darüber, ob ich noch Gründe habe, dich überhaupt in diesem Rang zu belassen!“ Jetzt brüllte sie ihn an. „Und wenn du zu einem Ergebnis gekommen bist, wirst du mir beweisen, hörst du, beweisen!, ob du recht hast! Und bis es soweit ist, wirst du als Letzter reiten und dich von mir fernhalten, hast du verstanden!“
„Wenn das dein Wunsch ist...“ sagte Rahor niedergeschlagen und wurde sofort wieder Opfer eines neuerlichen Ausbruches.
„Das ist es! Und du wirst dir wünschen, nie von den Cas gehört zu haben, wenn du es nicht schaffst, mich in naher Zukunft zu überzeugen! Im Augenblick bist du nichts anderes als ein neugieriger Schwätzer, der es noch nicht einmal verdient, eine Sichel zu tragen!“
Rahors Augen blitzten.
„Das meinst du nicht im Ernst! Ich bin würdig!“ verteidigte er sich tief getroffen.
„Nein, das bist du nicht! Wie kannst du es wagen, mir zu widersprechen! Verschwinde!“
Alle Cas waren wie erstarrt. Es waren harte Worte, die die Shaj da sprach. Die härtesten, die sie je zu einem von ihnen gesagt hatte. Keinem der Kämpfer fiel auch nur ein Beispiel dafür ein, dass jemals ein Cas, schon gar nicht der Oberste, seines Ranges enthoben worden wäre. Einige waren freiwillig von ihren Aufgaben zurückgetreten, so wie Wandan oder Akosh. Aber niemand war je so gedemütigt worden wie Rahor in diesem Moment.
„Was hast du ihr getan?“ murmelte Sham-Yu entsetzt, als Lennys kurz darauf außer Hörweite war und mit Haz-Gor, Horem und Garuel vorneweg ritt.
„Lass mich, Sham. Ich muss selbst erst darüber nachdenken.“
„Sie kann so nicht mit dir reden!“
„Doch. Das kann sie. Und nur sie.“
„Du musst...“
„Ich muss gar nichts. Lass mich jetzt allein.“
Rahor sprach den Rest des Tages kein Wort mehr. Während die anderen Cas, immer noch verstört und schockiert, versuchten, ihre wahre Stimmung zu überspielen und Lennys keinen Grund mehr zu geben, auch sie weiter anzufahren, blieb der hohe Krieger für sich und hielt weiten Abstand zu allen anderen.
Das letzte Wegstück nach Thau führte sie über eine leicht abfallende Ebene, die zu schnellem Galopp einlud. Die Mondpferde flogen geradezu über das verdorrte Gras hinweg, das gerade im Begriff war, sich den Vorboten des Frühlings entgegenzurecken. Da der Abend nahte und dieses Gelände den Hantua mehr lag als der dichte Wald, waren Horems Fähigkeiten erneut gefragt. Hinzu kam, dass das Verlassene Land, das frühere Fürstentum Orio, nicht weit war. Zwar entfernten sie sich seit den Singenden Sümpfen wieder davon, aber gerade hier, nahe der mittelländischen Dörfer, war die Wahrscheinlichkeit groß, den Kriegern Zrundirs zu begegnen, die sich dorthin aufmachten oder von dort losgezogen waren.
Umso erstaunlicher war es, dass sie zwar jede Menge frischer Spuren fanden, aber weit und breit kein Feind auszumachen war.
„Ich verstehe das nicht.“ murmelte Horem so ungeduldig, als wäre die wie ausgestorben wirkende Gegend sein eigenes Verschulden. „Sie müssen doch irgendwo sein. Dass sie die Sümpfe meiden – das verstehe ich ja. Und den Wald vielleicht auch. Liegt ihnen halt nicht. Aber sogar da waren ein paar. Und hier – nichts. Weit und breit nichts. Kann doch gar nicht sein, viele der Spuren sind keine zwei Tage alt!“
Lennys blickte in Richtung Süden, wo – noch ein ganzes Stück entfernt – die mit Lehmziegeln bedeckten Dächer des Dorfes Thau orange in der Abendsonne leuchteten.
Es schien fast als würden sie glühen... oder brennen.
Der Anblick erinnerte die Shaj an etwas.
„Leben noch Sichelländer in Thau?“ wollte sie wissen.
„Ich... ich weiß nicht. Eher nicht.“ antwortete Horem unsicher.
„Die Hantua verstecken sich noch. Wir müssen sie aus der Reserve locken. Nur so erfahren wir, wo sie sich aufhalten und wie viele es wirklich sind.“ Sie klang plötzlich wieder fast normal. Zwar bedrohlich und ungeduldig, aber nicht mehr so zornig.
Gerade diese Wandlung war es, die Horem alles andere als beruhigte. Ihre Augen glommen, als sich die leuchtenden Dächer darin spiegelten.
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