„Yos?“
Er lag am anderen Ende des Bootes, hinten am Heck. Seine Haut war weiß wie das Mondlicht und seine Augen starrten ins Leere.
„Yos!!!“ schrie sie und die Angst, die sie plötzlich ausfüllte, verursachte schon fast körperliche Schmerzen. Sie stolperte über ein Seil, stürzte, rappelte sich auf und warf sich über den reglosen jungen Mann.
„Yos!!! Verdammt nochmal, sag etwas!“ Sie rüttelte an seiner Schulter.
„Yos, das kannst du nicht mit mir machen!!!“
Seine Mundwinkel zuckten.
„Ich sollte dir eigentlich eine runterhauen, Mädel.“
Jetzt zeigten auch seine Augen wieder Leben. Er zwinkerte sie an, was aber nicht darüber hinwegtäuschte, dass der Schock ihm noch tief in den Gliedern steckte.
„War 'ne Schnapsidee, hier lang zu fahren.“
Ihre Erleichterung trieben ihr fast die Tränen in die Augen.
„Es tut mir leid.“
Die Drei Wachen von Shanguin lagen hinter ihnen. Obwohl sie sich schon ein ganzes Stück von ihnen entfernt hatten, war noch immer gut zu erkennen, in welcher Gefahr sie geschwebt hatten.
Sara wusste nicht mehr, wie sie hindurch gekommen waren. Sie war durch Gischt und Wellen so gut wie blind gewesen, das Tosen und Heulen hatte Yos' Rufe übertönt und irgendwann war ihr einfach schwarz vor Augen geworden. Das nächste, was sie gesehen hatte, waren die Sterne gewesen. Schmerzen in der Schulter, in den Knien und am Kopf hatten ihr gesagt, dass sie noch lebte. Und das sanfte Schaukeln des Bootes, dass sie auch noch weiter leben würde.
Allein, sich dessen bewusst zu werden, hatte eine gefühlte Ewigkeit gedauert.
Sie reichte Yos ihre Hand, um ihm zu helfen, sich aufzurichten. Er musterte sie besorgt.
„Du blutest.“
Dabei berührte er ihre Stirn und zeigte ihr seine blutverschmierten Finger.
„Ach das. Halb so schlimm. Und du? Bist du verletzt?“
„'N paar Kratzer. Mehr nich', glaub' ich.“ Auch er sah zurück zu den Felsinseln. „Keine Ahnung, wie wir das geschafft haben. Müssten eigentlich tot sein.“
Sara untersuchte inzwischen das Boot.
„Das Segel ist zerrissen. Wir müssen eine der Decken als Ersatz nehmen. Oder unsere Umhänge. Und wir haben nur noch zwei Ruder. Eins ist zerbrochen, und das vierte fehlt ganz. Wurde wohl über Bord gespült.“
„Hauptsache, das Essen is' noch da.“ Yos rieb sich den Bauch. „Du wirst es nich' glauben, aber ich sterbe vor Hunger.“
„Ich auch.“ Sie untersuchte eines der Bündel, die unter den Sitzbänken verstaut lagen. „Es ist wohl ziemlich durchgeweicht. Das Brot können wir sicher wegwerfen. Aber vielleicht ist der Rest noch genießbar.“
Es stellte sich heraus, dass auch die Decken fast vollständig durchnässt waren. Nur zwei waren noch halbwegs zu gebrauchen. In sie eingekuschelt und sacht dahintreibend, aßen sie Fleisch und Obst, beides etwas salzig vom Meerwasser, aber dennoch köstlicher als sie es sich hatten vorstellen können. Vielleicht, weil sie gerade erst einen Moment erlebt hatten, in dem sie sich überhaupt keine Mahlzeit mehr hatten vorstellen können.
Sie fühlten sich tatsächlich wie neugeboren.
Nachdem sie sich gestärkt und noch einmal über dieses beinahe tödliche Abenteuer ausgetauscht hatten, machten sie sich daran, aus ihren Umhängen ein neues Segel zusammenzubinden. Es war längst nicht so gut wie das alte, von dem nur noch Fetzen übrig waren, aber es blähte sich im Wind und brachte die Barke wieder in Fahrt.
„Bei Nacht ist es leichter, die Richtung zu halten.“ erklärte Yos und deutete nach oben. „Siehst du diese beiden großen hellen Sterne da? Die, die ganz dicht zusammenstehen. An die müssen wir uns halten, denen müssen wir entgegenfahren. Dann sind wir bald am Festland. Und dann, das verprech' ich dir, gibt’s keine Experimente mehr. Dann bleiben wir an der Küste. Könnten sowieso kaum noch 'was abkürzen.“
Sara nickte nur. Sie sagte nicht, was sie wirklich dachte, nämlich, dass es eigentlich nicht ihr Fehler gewesen war, der sie fast das Leben gekostet hatte. Yos hätte besser aufpassen müssen, er hatte nicht gemerkt, dass sie zu weit nach Westen abgetrieben waren. Aber andererseits war sie diejenige gewesen, die dafür plädiert hatte, auf das offene Meer hinauszufahren. Also behielt sie ihre Meinung für sich. Sie machte Yos auch keinen Vorwurf, er war nun einmal kein erfahrener Seefahrer. Er trug keine wirkliche Schuld an der Katastrophe. Genauso wenig wie sie.
Die nächsten Stunden verliefen ruhig. Yos und Sara griffen abwechselnd zu den Rudern, jedoch nicht, weil der Wind zu schwach war, sondern um sich aufzuwärmen. Yos hatte vorgeschlagen, so schnell wie möglich an Land zu gehen, ganz gleich, wie unwirtlich die Gegend dort auch sein mochte. Sie wollten ein Feuer machen und ihre nassen Sachen trocknen und sich dann erst einmal gründlich ausschlafen. Diese Verzögerung mussten sie wohl oder übel in Kauf nehmen, das sah auch Sara ein. Insgeheim freute sie sich sogar darauf, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, selbst wenn es nur für kurze Zeit war.
Dann endlich schimmerte ein grüner Streifen im Morgengrauen am Horizont. Und diesmal wurde Yos Freudengeschrei nicht durch eine plötzliche Erkenntnis unterbrochen. Land. Richtiges Land. Keine Riffe, keine Felseninseln. Sondern braungrüne Hügel, die zum Meer hin in einen schlammigen Sandstrand übergingen. Es kostete sie mehrere Versuche, eine Stelle zu finden, an der sie mit dem Boot dicht heranfahren konnten, ohne auf Grund zu laufen, denn das Gewässer war hier seicht und schmutzig, so dass man kaum etwas sehen konnte. Aber dann fanden sie eine Bucht, an der sie anlegen und die Barke mit einem Seil an einem großen Stein am Ufer vertauen konnten.
Weitaus schwieriger gestaltete sich die Suche nach Feuerholz. Es hatte in dieser Gegend wohl tags zuvor geregnet und die wenigen Bäume, die es hier gab, boten nur nasses Astwerk. So mussten sie sich mit ihrem eigenen zerbrochenem Ruder, zähen Wurzeln und den stinkenden Algen zufriedengeben, die sie in einer trockenen Felsspalte gefunden hatten. Das Feuer verursachte mehr Qualm als Wärme, aber immerhin half es, die Feuchtigkeit aus ihrer Kleidung und den Decken zu vertreiben.
„Wo sind wir eigentlich?“ fragte Sara, während Yos den Boden um sie herum von den größeren Steinen zu befreien versuchte, damit sie ein halbwegs bequemes Lager errichten konnten.
„Immer noch in Shanguin. Da hinten muss Valahir sein. Ich denk' mal, an klareren Tagen könnte man die Berge seh'n. Wir müssten auf so 'ner Art Halbinsel sein. Hab da mal ne Karte gesehn. Um die müssen wir rum. Also um die Halbinsel. Und dann noch an den letzten Bergen vorbei. Das war's.“
„Wie lange wird das dauern?“
Yos rechnete angestrengt nach. „Ich denk' mal, so zwei Tage oder so. Vielleicht 'n bisschen mehr, vielleicht auch weniger. Hab mich 'n bisschen verschätzt. Unter vier Tagen is' die Strecke insgesamt nich' zu machen. Dachte, es könnt auch schneller geh'n. War'n wohl nur Hochstapler, die sowas erzählen.“
„Das ist doch nicht deine Schuld. Ich weiß, dass es nicht schneller geht. Wahrscheinlich brauchen die meisten viel länger, wenn sie den Sichelbogen entlangfahren. Ich glaube nicht, dass jemand ein so kleines Boot schneller zu den Ruinen bringen kann, als du es gerade tust.“
Sie meinte das ganz ernst und Yos spürte das. Er strahlte vor Stolz.
„Weißte, ich glaub' auch nich', dass ich 'ne bessere Hilfe haben könnt' als dich. Hast zwar keine Erfahrung, aber du packst mit an. Ich dacht', du wärst so 'n verwöhntes Ding, weil du ja in Vas-Zarac gewohnt hast. Aber nee, biste nich'.“
Da fiel Sara etwas ein.
„Yos... wie willst du eigentlich zurückkommen? Der Wind kommt doch immer von Norden. Du kannst doch nicht den ganzen Weg rudern? Allein schon gar nicht.“
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