Sham-Yu grinste.
„Auch wieder wahr. Warum hat sie gestern auch so übertrieben? Muss ja ein ganz besonderer Leckerbissen gewesen sein, dieser Typ, den sie aufgeschlitzt hat. Sie hat ja immer Spaß an sowas, aber der gestern... meine Güte, ich dachte schon, es wäre Iandal oder so. Nee, war's natürlich nicht, aber so, wie sie losgelegt hat, glaub ich nicht, dass man das noch überbieten kann.“
„Keine Ahnung, wer das war. Wohl ein 'alter Bekannter', wenn man so will. Vielleicht war er damals bei Saton dabei. Ich geb' dir nur den Rat, sie nicht danach zu fragen.“
„Bin ich lebensmüde?“ prustete Sham. „Weißt du, eigentlich mag ich es ja, wenn sie so flucht. Solange ich nicht der Leidtragende bin. Ist mir lieber, als so ein Langweiler wie Talmir. Aber so wie jetzt - Na, das ist dann doch zuviel des Guten.“
„Kannst du laut sagen. Oder besser nicht. Gibt’s denn nichts, was ihre Stimmung ein bisschen hebt?“
„Ne Horde Hantua vielleicht. Aber nein, dann haben wir morgen wieder das gleiche Problem. Ich fürchte, das müssen wir durch. Ist ja nicht das erste Mal.“
„Und sicher auch nicht das letzte. Wenn ich dran denke, was wir noch vor uns haben... Wenn sie sich jedes Mal so auf das Blut stürzt und danach so 'ne Laune hat, soll sie mir lieber gleich den Kopf abhacken. Dann hab ich's hinter mir.“
„Nimm's mit Humor, Horem. Schlimmer kann's ja kaum noch werden.“
Als Lennys und die bei ihr verbliebenen Cas die Kreuzung erreichten, erwarteten Sham-Yu und Horem, dass sie die Anweisung, weiter nach Thau zu reiten, noch einmal wiederholen würde. Stattdessen aber fuhr die Shaj sie ohne Vorwarnung an:
„Was steht ihr da rum? Wollt ihr einen Mittagsschlaf abhalten? Hast du etwa die Orientierung verloren, Horem? Worauf wartet ihr?“
„Auf dich....“ sagte Sham leise und hätte sich im selben Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. „Ich meine... du sagtest doch wir sollen hier...“
„Auf mich?“ fauchte sie zornig und ihre Augen funkelten. „Sind wir euch zu langsam? Passt euch unser Tempo nicht? Na schön, wenn du gern schneller sein willst, versuch es doch!“
Und noch bevor irgendjemand etwas erwidern konnte, schlug sie ihrem Hengst die Fersen in die Flanken und stob in Richtung Südwesten davon. Keines der anderen Pferde, das wussten sie, würde mit ihr mithalten können. Ausgerechnet der recht mitgenommen wirkende Rahor, der noch immer den Abschluss bildete, fand als Erster die Sprache wieder.
„Ist sie jetzt völlig durchgedreht?“ Ohne auf die anderen zu achten, setzte er seiner Herrin nach und den restlichen Kriegern blieb nichts anderes übrig, als jetzt auch ihre Pferde anzutreiben und die Verfolgung aufzunehmen.
Der Wald wurde schnell merklich lichter. Die hohen Nadelbäume, Buchen und Eichen wichen zunehmend den Haselsträuchern und jungen Birken, die sich weiter östlich nicht behaupten konnten.
Die Hufe des schwarzen Hengstes schlugen wie Donnerhall auf dem Erdboden auf, ebenso mächtig und schnell wie die Schläge, die sie in ihren Schläfen spürte. Trotzdem drosselte sie das Tempo nicht. Nur ein wenig noch, bis sie genug Abstand hatte, der ihr eine kurze Zeit der Ruhe brachte.
Es tat dem Tier gut, zu laufen. Dieses Pferd war wie reines Feuer - einmal entfacht, war es nicht zu bändigen. Im Augenblick war der Hengst das einzige Lebewesen, dessen Nähe sie ertrug. Sie ließ ihn über einen umgestürzten Baumstamm springen, obwohl sie auch daran hätte vorbeireiten können, nur um noch mehr von der Kraft zu spüren, die von ihm ausging. Noch einmal über einen dornigen Strauch. Es machte ihm Spaß und er beschleunigte seinen Galopp weiter, nicht ahnend, dass das Hämmern im Kopf seiner Reiterin dadurch noch verstärkt wurde. Vielleicht wäre es ihm auch gleichgültig gewesen.
Erst als das Gelände wieder anstieg und kaum noch Bäume Schatten spendeten, wurde er langsamer. Lennys lenkte ihn zu einem schmalen Bachlauf und stieg dort ab. Unter dem dichten Blätterdach einer letzten verbliebenen Kastanie ließ sie sich in das fast verdorrte Gras sinken und sah dem Mondhengst zu, wie er seinen Durst löschte. Es war ein schönes Bild. Trotz der Sonne.
Lennys hasste das Licht. Und an Tagen wie diesen hasste sie es ganz besonders. Sie fühlte sich noch schlechter als an dem Morgen nach Balmans Fest. Zumindest körperlich. An den Rest wollte sie sich lieber nicht erinnern.
Sie wusste, was die Cas hinter ihrem Rücken tuschelten. Dass sie es übertrieben hatte mit dem Blut am Abend zuvor. Lächerlich. Sie war eine Batí, das was sie getan hatte, war ihre Bestimmung. Sie hätte gar nicht anders gekonnt, der Durst und das Verlangen waren ebenso wenig zu bändigen gewesen wie der Galopp des Mondhengstes - nahezu unstillbar.
Selbst wenn sie darüber nachgedacht hätte, ob sie am nächsten Tag die Folgen zu spüren bekam, hätte sie es nicht verhindern können. Und auch gar nicht verhindern wollen. Der einzige Fehler war gewesen, dass sie Rahor nicht weggeschickt hatte, als er zu ihr auf den Steg gekommen war.
Und das war es auch, was sie ihm nicht verzeihen konnte. Er hätte wegbleiben sollen. Oder zumindest sofort wieder gehen, in dem Moment, da er gemerkt hatte, dass sie einen gewissen Teil ihrer Kontrolle geopfert hatte, zugunsten des Blutdurstes, der wiederum sie kontrollierte. Aber er war geblieben. Hatte mit ihr gesprochen. Und dadurch das eine oder andere Wort vernommen, das nie für ihn bestimmt gewesen war.
Nur ein einziges Mal hatte sie Einspruch erhoben, aber da war es schon zu spät gewesen.
Natürlich musste sie nicht befürchten, dass er die Erinnerung an diese Begebenheit mit jemandem teilte. Das würde er nicht tun, dafür war er zu klug und zu zuverlässig. Dass er allein sie kannte, war schon schlimm genug. Sie wollte ihn nicht sehen. Zumindest im Moment nicht. Sie wollte niemanden sehen. Niemanden hören.
Der Hengst schnaubte leise.
'Dich meine ich nicht.' dachte sie.
„Ein wundervolles Tier.“ Die Stimme eines alten Mannes riss sie aus den Gedanken. Er stand hinter ihr, war also denselben Weg entlanggekommen wie sie selbst. Hatte sie ihn überholt? Nein, das hätte sie gesehen.
„Wer sonst als die Herrscherin des Nordens könnte ihn reiten?“ fragte der Alte. Und er fiel tatsächlich auf die Knie und verneigte sich tief.
Lennys kam gar nicht erst auf die Idee, nach ihrer Sichel zu greifen. Wer sich so gekonnt anschlich und sie derartig anredete, konnte kein Feind sein.
Er stand jetzt mit dem Rücken zur Sonne, so dass sein Gesicht unter der hochgezogenen Kapuze im Schatten verborgen blieb. Sein Umhang war schmutzig und zerschlissen, der graue Stoff stumpf und ausgeblichen. Und der Stock, auf den sich der Mann beim Gehen stützte, war nichts weiter als ein splittriger Ast, weder zurechtgeschnitzt, noch poliert.
Er warf einen neuen bewundernden Blick in Richtung des Pferdes.
„Eine wirkliche Schönheit. Wie seine Herrin. Meine Erinnerung hat mir keinen Streich gespielt.“
Plötzlich wusste Lennys, wer vor ihr stand. Sie sprang auf.
„Bist du wahnsinnig, hierher zu kommen? Ich habe dir ausdrücklich...“
„Ich weiß, meine Herrin, ich weiß.“ Der Alte ließ sich nicht im Geringsten aus der Ruhe bringen. „Aber leider musste ich mich diesem Befehl widersetzen. Nicht, weil ich nur so mein Leben retten konnte – nein. Das ist ohnehin nichts wert. Sondern, weil ich euch sonst nicht hätte berichten können. Es ist für einen einzelnen cycalanischen Boten momentan sehr schwer, unerkannt durch das Mittelland zu reisen, müsst ihr wissen. Aber mich kennt man seit vielen Jahren und niemand würde auf die Idee kommen, ich könne etwas anderes sein, als ein alter verschrobener Mittelländer, der seine Zeit am liebsten inmitten noch älterer Bücher verbringt.“
„Wie hast du mich gefunden?“
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