Escherich hat den farblosen Blick von der Karte gewendet. Er sitzt jetzt an seinem Schreibtisch und ißt langsam und gedankenvoll seine Frühstücksstullen. Als das Telefon klingelt, greift er nur zögernd danach. Noch ganz gleichgültig hört er die Meldung: »Hier Polizeirevier Frankfurter Allee. Kommissar Escherich?«
»Am Apparat.«
»Sie bearbeiten den Fall: Karte Unbekannt?«
»Ja. Was gibt’s? Schnell ein bißchen!«
»Wir haben mit ziemlicher Sicherheit den Kartenverteiler gefaßt.«
»Bei der Verteilung?«
»Nahezu. Er leugnet natürlich.«
»Wo haben Sie ihn?«
»Noch bei uns auf dem Revier.«
»Behalten Sie ihn dort, ich bin mit meinem Wagen in zehn Minuten bei Ihnen. Und: nicht weiter vernehmen! Den Mann in Ruhe lassen! Ich will mit ihm selber sprechen. Verstanden?«
»Zu Befehl, Herr Kommissar!«
»Ich komme dann!«
Einen Augenblick stand Kommissar Escherich fast reglos über dem Telefon. Der Zufall – der gnädige, gute Zufall! Er hatte es ja gewußt, nur Geduld mußte man haben!
Er ging rasch zur ersten Vernehmung des Kartenverteilers.
22
Ein halbes Jahr danach: Enno Kluge
Der Feinmechaniker Enno Kluge saß ungeduldig wartend im Vorzimmer eines Arztes. Er saß dort mit noch andern dreißig oder vierzig Wartenden. Eine stets gereizte Sprechstundenhilfe rief eben die Nummer 18 aus, Enno aber hatte die Nummer 29. Er würde noch über eine Stunde sitzen müssen, und in der Kneipe »Ferner liefen« wartete man schon auf ihn.
Enno Kluge konnte es nicht länger beim Sitzen aushalten. Er wußte gut, er durfte nicht eher gehen, bis der Arzt da vorn ihn krankgeschrieben hatte, sonst gab es Stunk in der Fabrik. Aber eigentlich konnte er gar nicht länger warten, sonst war es zu spät, noch seine Rennwetten abzuschließen.
Enno will im Wartezimmer auf und ab gehen. Aber dafür ist es viel zu voll, er wird angeschnauzt. So zieht er sich auf den Flur zurück, und als ihn die Sprechstundenhilfe dort entdeckt und sehr gereizt auffordert, ins Wartezimmer zurückzugehen, fragt er sie nach der Toilette.
Sie zeigt sie ihm widerspenstig genug, und sie will auch abwarten, bis der Mann wieder herauskommt. Aber dann geht die Flurklingel ein paarmal kurz nacheinander, und sie muß den 43., den 44., den 45. Patienten empfangen, sie hat Personalien aufzunehmen, Kartothekkarten auszufüllen, Krankenscheine zu stempeln.
So geht das vom frühen Morgen bis in die späte Nacht. Sie ist halbtot, der Arzt ist halbtot, und nie verläßt sie mehr dieser unselige Zustand dauernder Gereiztheit, in dem sie nun schon Wochen und Wochen ist. In diesem Zustand hat sie einen wahren Haß auf diesen immer weiter fließenden Strom von Patienten geworfen, die sie nie mehr zur Ruhe kommen lassen, die schon morgens um acht Uhr, wenn sie kommt, geduldig an der Tür stehen, und die noch abends um zehn im Wartezimmer herumhocken, es mit ihren üblen Gerüchen erfüllend: alles Drückeberger von der Arbeit, Drückeberger von der Front, Menschen, die sich auf eine ärztliche Bescheinigung mehr Lebensmittel, bessere Lebensmittel erschleichen wollen. Alles Leute, die sich von ihren Pflichten drücken wollen, sie aber kann das nicht. Sie muß hier aushalten, darf nicht krank sein (was finge denn der Doktor ohne sie an?), sie muß noch freundlich sein zu diesen Heuchlern, die alles schmutzig machen, vollschleimen, vollkotzen! Auf der Toilette liegt immer alles voll Zigarettenasche.
Dabei fällt ihr der kleine Schleicher ein, dem sie vorhin die Toilette hat zeigen müssen. Sicher sitzt der noch immer da und qualmt Zigaretten. Sie springt auf, rennt hinaus, rüttelt an der Tür.
»Besetzt!« ruft es von drinnen.
»Wollen Sie wohl machen, daß Sie da runterkommen!« fängt sie zornig zu schelten an. »Denken Sie, Sie können da Stunden und Stunden sitzen? Andere Leute möchten auch die Toilette benutzen!«
Sie wirft dem an ihr vorbeischleichenden Kluge zornig die Worte nach: »Natürlich alles wieder vollgequalmt! Ich werde dem Herrn Doktor erzählen, wie krank Sie sind! Sie sollen mal was erleben!«
Entmutigt lehnt Enno Kluge im Sprechzimmer gegen die Wand – sein Stuhl ist unterdes auch besetzt worden. Der Arzt ist inzwischen bis Nummer 22 gekommen. Wahrscheinlich ganz sinnlos, hier noch weiter zu warten. Das Biest da draußen ist imstande, den Arzt aufzuhetzen, daß er ihn wirklich nicht krankschreibt. Und was dann? Dann funkt es draußen in der Fabrik! Er fehlt nun schon mal wieder den vierten Tag; die sind imstande und schicken ihn wirklich noch in eine Strafkompanie oder in ein KZ – imstande sind die Brüder dazu! Ja, er muß heute noch einen Krankenschein kriegen, und es ist am schlauesten, er wartet hier weiter, da er nun schon so lange gewartet hat. Bei einem andern Arzt ist es ebenso voll, er muß bis in die Nacht sitzen, und von diesem hier hat er wenigstens gehört, daß er leicht krankschreibt. Wird er heute eben mal nicht auf Pferde wetten, muß es eben heute mal ohne den Enno gehen, hilft nichts …
Er lehnt hüstelnd gegen die Wand, ein schwächliches Etwas. Besser ein Garnichts. Von jener Abreibung durch den SS-Mann Persicke hat er sich nie ganz erholen können. Jawohl, mit der Arbeit war es nach ein paar Tagen besser geworden, obwohl seine Hände nicht wieder die alte Geschicklichkeit erlangten. Es reichte jetzt gerade zu einem Durchschnittsarbeiter. Nie wieder würde er die alte Handfertigkeit erlangen, ein angesehener Mann in seinem Fach werden.
Vielleicht war es das, was ihm die Arbeit so gleichgültig machte, vielleicht lag es aber auch daran, daß er auf die Länge überhaupt nicht gerne mehr arbeitete. Er sah den Sinn und den Zweck der Arbeit nicht so recht ein. Wozu sich so anstrengen, wenn man auch ohne Arbeit ausreichend leben konnte! Etwa für den Krieg? Die sollten ihren Scheißkrieg gut und gerne alleine führen, ihn interessierte der nicht. Vielleicht schickten die mal ihre ganzen fetten Bonzen an die Front, dann würde der Krieg schnell aus sein!
Nein, es war aber auch nicht die Frage nach dem Sinn seiner Arbeit, die ihm alle Tätigkeit verhaßt machte. Es war der Umstand, daß Enno zur Zeit ohne Arbeit leben konnte. Ja, er war schwach gewesen, er gestand es sich jetzt ein, er war wieder zu den Weibern gegangen, erst zu Tutti, dann zu Lotte, und die waren auch ganz bereit gewesen, diesen kleinen, anschmiegsamen Mann eine Weile durchzuschleppen. Und sobald man sich mit den Weibern einließ, war es mit jeder geregelten Arbeit aus. Schon morgens schimpften sie, wenn er um sechs Uhr seinen Kaffee und das Frühstück verlangte, was das wohl heißen sollte? Um diese Zeit schlief jeder Mensch, und ob er es denn nötig habe? Er solle doch ruhig wieder ins warme Bett kriechen!
Nun, ein- oder zweimal bestand man ein solches Gefecht siegreich, aber, wenn man ein Enno Kluge war, kein drittes Mal. Man gab nach, kroch zu der Frau in die Betten und schlief noch ein oder zwei oder sogar noch drei Stunden.
War es so spät, ging er überhaupt nicht mehr in die Fabrik, sondern machte den Tag blau. Oder war es noch früher, kam man eben ein bißchen zu spät zur Arbeit, mit irgendeiner lahmen Entschuldigung, wurde angeschnauzt (aber das war man ja schon lange gewohnt, da hörte man gar nicht mehr hin), tat ein paar Stunden was und ging heim, wieder vom Geschimpfe empfangen: Wozu man denn einen Mann im Haus hielte, wenn er den ganzen Tag fort war? Wegen der paar Mark! Die wären gewiß leichter zu verdienen! Nein, wenn es Arbeit sein mußte, wäre er besser in seinem engen Hotelzimmerchen geblieben, Weiber und Arbeit, das ließ sich nicht vereinigen. Bei einer ja, bei der Eva – und natürlich hatte Enno Kluge auch wieder einen Versuch gemacht, bei seiner Frau, der Briefbestellerin, unterzukriechen. Aber da erfuhr er von der Frau Gesch, daß die Eva verreist war. Die Gesch hatte einen Brief von ihr gekriegt, sie saß irgendwo im Ruppinschen bei Verwandten. Jawohl, sie, die Gesch, hatte jetzt die Schlüssel zu der Wohnung, aber sie dachte nicht daran, sie dem Enno Kluge auszuhändigen. Wer schickte regelmäßig die Miete: er oder seine Frau? Nun also, gehörte die Wohnung doch ihr, nicht ihm! Sie hatte sich seinetwegen schon genug Ungelegenheiten gemacht, sie dachte gar nicht daran, ihm die Wohnung freizugeben.
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