Nein, dies war kein unangenehmer Besuch, obwohl zwei Karten weniger als sonst geschrieben wurden. Quangels meinten es auch ganz aufrichtig, als sie den Heffkes beim Abschied einen Gegenbesuch versprachen. Sie hielten auch das Versprechen. Etwa fünf oder sechs Wochen später suchten sie die Heffkes in einer kleinen Notwohnung auf, die ihnen im Westen in der Nähe des Nollendorfplatzes frei gemacht worden war. Die Quangels benutzten diesen Besuch, um endlich auch mal im Westen eine Karte abzulegen; obwohl es Sonntag und das Bürohaus wenig belebt war, ging alles gut.
Von da an folgten die gegenseitigen Besuche sich in etwa sechswöchigem Abstand. Sie waren nicht weiter aufregend, aber sie brachten doch ein wenig andere Luft in das Leben der Quangels. Meist saßen Otto und seine Schwägerin schweigend am Tisch und lauschten auf das leise Gespräch der beiden Geschwister, die nicht müde wurden, von ihrer Kindheit zu plaudern. Es tat Quangel gut, auch diese andere Anna kennenzulernen; freilich fand er nie eine Brücke zwischen der Frau, die heute an seiner Seite lebte, und jenem Mädchen, das die Landarbeit verstand, mutwillige Streiche verübte und trotzdem als beste Schülerin der kleinen Landschule galt.
Sie erfuhren, daß Annas Eltern noch immer in ihrem Geburtsort lebten, sehr alte Leute – der Schwager erwähnte beiläufig, daß er den Eltern monatlich zehn Mark sandte. Anna Quangel war schon drauf und dran, dem Bruder zu sagen, daß sie das von nun an auch tun würden, aber sie fing noch zur rechten Zeit einen warnenden Blick ihres Mannes auf und schwieg.
Erst auf dem Heimweg sagte er dann: »Nein, besser nicht, Anna. Wozu solch alte Leute verwöhnen? Sie haben doch ihre Rente, und wenn der Schwager dazu noch alle Monate zehn Mark schickt, ist das genug.«
»Wir haben doch soviel Geld auf der Sparkasse!« bat Anna. »Wir werden es nie aufbrauchen. Früher haben wir gedacht, es wäre mal für Ottochen, aber jetzt … Laß es uns tun, Otto! Und wenn es nur fünf Mark sind alle Monate!«
Ungerührt antwortete Otto Quangel: »Jetzt, wo wir in der großen Sache drin sind, wissen wir nicht, wozu wir unser Geld eines Tages noch brauchen werden. Vielleicht werden wir jede einzelne Mark gebrauchen, Anna. Und die alten Leute haben bisher auch ohne uns gelebt, warum nicht weiter so?«
Sie schwieg, ein wenig gekränkt, vielleicht nicht so sehr in ihrer Liebe zu den Eltern, denn sie hatte kaum je an die alten Leute gedacht und ihnen nur einmal im Jahre aus Pflichtgefühl zu Weihnachten einen Brief geschrieben. Aber sie kam sich vor dem Bruder etwas blamiert und schäbig vor. Der Bruder sollte doch nicht denken, sie könnten nicht das, was er konnte.
Anna sagte hartnäckig: »Der Ulrich wird denken, wir können’s nicht, Otto. Er wird von deiner Arbeit gering denken, daß sie nur so wenig einbringt.«
»Es ist doch ganz egal, was andere von mir denken«, versetzte Quangel. »Ich hole nun einmal für so was kein Geld von der Kasse.«
Anna fühlte, dieser letzte Satz war unumstößlich. Sie schwieg, sie fügte sich wie immer, wenn solch ein Satz von Otto gesprochen wurde, aber ein bißchen gekränkt war sie doch, daß der Mann nie Rücksicht auf ihre Gefühle nahm. Doch vergaß Anna Quangel diese Kränkung rasch bei der Weiterarbeit am großen Werk.
21
Ein halbes Jahr danach: Kommissar Escherich
Ein halbes Jahr nach Empfang der ersten Karte stand der Kommissar Escherich, seinen sandfarbenen Schnurrbart streichend, vor der Karte Berlins, auf der er mit roten Fähnchen die Fundpunkte von Quangels Karten markiert hatte. Es steckten jetzt vierundvierzig solcher Fähnchen auf dem Blatt; von den achtundvierzig Karten, die Quangels in diesem halben Jahr geschrieben und ausgetragen hatten, waren nur vier nicht bei der Gestapo gelandet.
Und auch diese vier waren wohl kaum in den Betrieben von Hand zu Hand gegangen, wie es sich die Quangels erhofft, sondern sie waren, kaum gelesen, schon angstvoll zerrissen, weggespült oder verbrannt worden.
Die Tür geht, und Escherichs Vorgesetzter, der SS-Obergruppenführer Prall, kommt herein: »Heil Hitler, Escherich! Nun, warum beißen Sie so auf Ihrem Bart herum?«
»Heil Hitler, Herr Obergruppenführer! Das ist der Kartenschreiber, der Klabautermann, wie ich ihn bei mir nenne.«
»Nanu? Warum denn Klabautermann?«
»Weiß nicht. Fiel mir so ein. Vielleicht, weil er die Leute graulich machen will.«
»Und wie weit sind wir damit, Escherich?«
»Tja!« sagte der Kommissar gedehnt. Er sah wieder nachdenklich auf die Karte. »Nach der Verbreitung zu schließen, muß er irgendwo nördlich vom Alexanderplatz sitzen, da sind die meisten Vorkommen. Aber auch Osten und Zentrum sind ganz gut bepflastert. Der Süden gar nicht, im Westen, etwas südlich vom Nollendorfplatz, sind zwei Vorkommen – da muß er irgendwie gelegentlich zu tun haben.«
»Gut deutsch: Aus der Karte läßt sich noch gar nichts sagen! Damit kommen wir nicht einen Schritt weiter!«
»Abwarten! Ein halbes Jahr später, wenn mein Klabautermann bis dahin keinen andern Schwupper macht, wird die Karte schon viel mehr Aufschluß geben.«
»Halbes Jahr! Sie sind ja prächtig, Escherich! Ein halbes Jahr wollen Sie dieses Schwein noch wühlen und grunzen lassen und nichts tun, als in aller Gemütsruhe Ihre Fähnchen einpieken?«
»Bei unserer Arbeit muß man Geduld haben, Herr Obergruppenführer. Das ist, wie wenn Sie auf dem Anstand sitzen und auf den Bock warten. Sie müssen eben warten. Ehe er kommt, können Sie nicht schießen. Aber wenn er kommt, da schieß ich, verlassen Sie sich darauf!«
»Ich hör immerzu Geduld, Escherich! Glauben Sie denn, die Herren über uns haben soviel Geduld? Ich fürchte, wir kriegen bald einen reingehängt, an dem wir lange kauen werden. Bedenken Sie, in einem halben Jahr vierundvierzig Karten, das sind in jeder Woche fast zwei Karten, die bei uns eintrudeln, das sehen doch die Herren. Da fragen sie mich: Na, und? Noch nicht gefaßt? Warum noch nicht gefaßt? Was tut ihr eigentlich? Fähnchen pieken und Daumen drehen, antworte ich. Und dann kriege ich meinen reingewürgt und den Befehl, den Mann in zwei Wochen zu fassen.«
Kommissar Escherich grinste unter seinem sandfarbenen Bart. »Und dann würgen Sie mir einen rein, Herr Obergruppenführer, und geben mir den dienstlichen Befehl, den Mann in einer Woche zu fassen!«
»Grinsen Sie nicht so albern, Escherich! Über so einen Fall, wenn der zum Beispiel dem Himmler zu Ohren kommt, kann man sich die schönste Karriere verpfuschen, und vielleicht denken wir beide im KZ Sachsenhausen eines Tages noch trübselig darüber nach, wie schön doch die Zeiten waren, als wir noch rote Fähnchen einpieken durften.«
»Keine Bange, Herr Obergruppenführer! Ich bin ein alter Kriminalist und weiß, keiner kann was Besseres machen als wir tun: warten. Die sollen uns doch einen besseren Weg vorschlagen, die Klugscheißer, wie man an meinen Klabautermann rankommt. Aber natürlich wissen die auch keinen.«
»Escherich, bedenken Sie, wenn vierundvierzig bei uns eingetrudelt sind, so heißt das, daß mindestens ebenso viele, vielleicht aber über hundert Karten heute in Berlin umlaufen, Unzufriedenheit säen, Sabotage stiften. Das kann man doch nicht ruhig mit ansehen!«
»Hundert Karten im Umlauf!« lachte Escherich. »Haben Sie eine Ahnung vom deutschen Volk, Herr Obergruppenführer! Bitte tausendmal um Entschuldigung, Herr Obergruppenführer, so wollte ich es wirklich nicht sagen, es ist mir nur so rausgerutscht! Natürlich haben Herr Obergruppenführer viel Ahnung vom deutschen Volk, mehr als ich wahrscheinlich, aber die Leute haben jetzt doch solche Angst! Die liefern ab – mehr als zehn Karten sind bestimmt nicht im Umlauf!«
Nach einem zornigen Blick wegen des beleidigenden Ausrufes von Escherich (diese Leute, die von der Kripo kamen, waren ein bißchen reichlich dumm und taten viel zu kollegial!), und einem wütenden Vorschnellen des Armes sagte jetzt der Obergruppenführer: »Aber zehn sind auch noch zuviel! Eine ist noch zuviel! Gar keine darf mehr umlaufen! Sie müssen den Mann fassen, Escherich – und schnell!«
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