Die Frau drinnen merkt nichts davon, sie kämpft ihren schwersten Kampf. Sie sieht den alten Rat Fromm wieder vor sich, sein Gesicht war so ernst, als er sagte, sie möge bis zur allerletzten Minute warten, vielleicht bekomme sie ihren Mann doch noch einmal zu sehen.
Und sie hat ihm zugestimmt. Natürlich ist es das richtige, sie muß warten, Geduld üben, vielleicht dauert es noch Monate. Aber seien es auch nur noch Wochen, es ist so schwer, jetzt noch zu warten. Sie kennt sich doch, wieder wird sie verzweifeln, lange weinen, in Trübsinn verfallen, alle sind so hart mit ihr, nie ein gutes Wort, nie ein Lächeln. Die Zeit wird kaum zu ertragen sein. Sie braucht nur ein bißchen zu spielen, mit der Zunge und mit den Zähnen, es braucht ja noch gar nicht Ernst zu sein, nur so ein bißchen probieren, und schon ist es geschehen. Es ist ihr jetzt so leicht gemacht – es ist ihr zu leicht gemacht!
Das ist es. In irgendeiner Stunde wird sie schwach sein, sie wird es tun, und in dem Augenblick, da sie es getan hat, in dem ganz kleinen Augenblick zwischen Tat und Tod wird sie es bereuen, wie sie nie etwas im Leben bereut hat: sie hat sich der Aussicht beraubt, ihn noch einmal wiederzusehen, weil sie feige und schwach war. Man wird ihm die Nachricht von ihrem Tode bringen, und er wird erfahren, daß sie ihn verlassen hat, daß sie ihn verraten hat, daß sie feige war. Und er wird sie verachten, er, dessen Achtung ihr allein auf der Welt etwas gilt.
Nein, sie muß diese unselige Glasröhre auf der Stelle zerstören. Morgen früh kann es vielleicht zu spät sein, wer weiß, in welcher Stimmung sie morgen früh aufwacht.
Aber auf dem Wege zum Kübel hält sie inne …
Und wieder nimmt sie ihre Wanderung auf. Plötzlich hat sie sich erinnert, daß sie sterben muß und wie sie sterben muß. Sie hat es ja gehört in diesem Gefängnis bei ihren Fenstergesprächen, daß es nicht der Galgen sein wird, der sie erwartet, sondern das Fallbeil. Sie haben es ihr gerne geschildert, wie man sie auf den Tisch schnallen wird, auf dem Bauche liegend wird sie in einen mit Sägemehl halbgefüllten Korb starren, und auf dieses Sägemehl fällt in wenigen Sekunden ihr Kopf. Man wird ihren Nacken entblößen, und über diesem Nacken wird sie die Kälte des Fallbeils spüren, noch ehe es zu stürzen beginnt. Dann wird das Sausen immer lauter werden, es wird in ihren Ohren dröhnen wie eine Trompete des Jüngsten Gerichts, und dann wird ihr Körper nur ein zuckendes Etwas sein, dessen Halsstumpf dicke Strahlen Blut ausspeit, während der Kopf im Korbe vielleicht nach dem blutspeienden Halse glotzt und noch sehen kann, fühlen kann, leiden kann …
So haben sie es ihr erzählt, und so hat sie es sich viele hundert Male vorstellen müssen, und davon hat sie geträumt manches Mal, und von all diesen Schrecknissen kann ein einziger Biß auf das Glasröhrchen sie befreien! Und das soll sie von sich tun, diese Erlösung soll sie aufgeben? Sie hat die Wahl zwischen einem leichten Tod und einem schweren Tod – und sie soll den schweren Tod wählen, bloß weil sie Furcht hat, schwach zu werden, vor Otto zu sterben? Sie schüttelt den Kopf, nein, sie wird nicht schwach werden. Sie kann das doch, warten bis zur letzten Minute. Sie will Otto wiedersehen.
Sie hat die Angst ausgehalten, die sie immer ergriff, wenn Otto die Karten ablegte, sie hat den Schreck der Verhaftung ausgehalten, sie hat die Quälereien des Kommissars Laub überstanden, sie hat Trudels Tod verwunden – sie wird doch noch warten können, ein paar Wochen, ein paar Monate! Sie hat alles ertragen – auch dies wird sie ertragen! Natürlich muß sie das Gift aufbewahren bis zur letzten Minute.
Sie wandert auf und ab, auf und ab.
Aber der eben gefaßte Entschluß erleichtert sie nicht. Von neuem beginnt der Zweifel, und von neuem schlägt sie sich mit ihm herum, und wieder beschließt sie, das Gift jetzt, sofort, auf der Stelle zu vernichten, und wieder tut sie es nicht.
Darüber ist es Abend geworden und Nacht. Man hat die ungetane Arbeit aus der Zelle geholt, und es ist ihr eröffnet worden, daß ihr wegen Faulheit für eine Woche die Matratze entzogen und daß sie für eine Woche auf Wasser und Brot gesetzt worden ist. Aber sie hat kaum hingehört. Was geht das sie an, was die reden?
Ihre Abendsuppe steht unangerührt auf dem Tisch, und noch immer läuft sie auf und ab, todmüde, keines klaren Gedankens mehr fähig, eine Beute des Zweifels: Soll ich – soll ich nicht?
Jetzt spielt ihre Zunge mit dem Giftröhrchen im Munde, ohne daß sie es recht weiß, ohne daß sie es recht will, setzt sie ihre Zähne sanft, sanft auf das Glas auf, ganz vorsichtig beißen die Zähne ein wenig …
Und hastig holt sie das Glas aus der Mundhöhle. Sie wandert und probiert, sie weiß nicht mehr, was sie tut – und draußen liegt die Tobjacke für sie bereit …
Dann plötzlich, schon tief in der Nacht, entdeckt sie, daß sie auf ihrer Holzpritsche liegt, auf den harten Brettern, mit der dünnen Decke zugedeckt. Sie zittert vor Kälte am ganzen Leibe. Hat sie geschlafen? Ist das Röhrchen noch da? Hat sie es etwa verschluckt? Sie hat es nicht mehr im Munde!
Sie fährt in ihrer Angst hoch, setzt sich auf – und lächelt. Da ist es – in ihrer Hand. Sie hat es in der hohlen Hand gehalten während des Schlafs. Sie lächelt, noch einmal ist sie gerettet. Nicht den andern, fürchterlichen Tod muß sie sterben …
Und während sie da so frierend sitzt, denkt sie daran, daß sie von heut an jeden Tag, der werden wird, diesen schrecklichen Kampf kämpfen muß zwischen Willen und Schwäche, Feigheit und Mut. Und wie ungewiß der Ausgang dieses Kampfes ist …
Und durch Zweifel und Verzweiflung hört sie eine sanfte, gütige Stimme: Nicht bange sein, Kind, bloß nicht bange sein …
Plötzlich weiß Frau Anna Quangel: Jetzt werde ich mich entschließen! Jetzt habe ich die Kraft!
Sie schleicht zur Tür, sie lauscht hinaus auf den Gang. Der Schritt der Aufseherin nähert sich. Sie stellt sich an die Wand gegenüber, beginnt dann, als sie merkt, sie wird durch den Spion beobachtet, langsam auf und ab zu gehen. Nicht bange sein, Kind …
Erst als sie ganz sicher ist, die Aufseherin ist weitergegangen, klettert sie am Fenster hoch. Eine Stimme fragt: »Bist du das, Sechsundsiebzig? Hast du heute Besuch gehabt?«
Sie antwortet nicht. Sie wird nie mehr antworten. Mit der einen Hand hält sie sich an der Fensterblende, die andere streckt sie hinaus, zwischen den Fingern das Röhrchen. Sie drückt es gegen die Steinwand, sie fühlt, der dünne Hals bricht ab. Sie läßt das Gift in die Tiefe des Hofes fallen.
Als sie wieder in der Zelle ist, riecht sie an ihren Fingern: sie riechen stark nach bitteren Mandeln. Sie wäscht sich die Hände, sie legt sich auf das Bett. Sie ist todmüde, ihr ist, als sei sie einer schweren Gefahr entronnen. Sie schläft rasch ein. Sie schläft sehr tief und traumlos. Sie wacht erfrischt auf.
Von dieser Nacht an gab Sechsundsiebzig keinen Anlaß mehr zu Tadel. Sie war ruhig, heiter, fleißig, freundlich.
Sie dachte kaum noch an ihren schweren Tod, sie dachte nur noch daran, daß sie Otto Ehre machen mußte. Und manchmal, in trüben Stunden, hörte sie wieder die Stimme des alten Kammergerichtsrats Fromm: Nicht bange sein, Kind, bloß nicht bange sein.
Sie war es nicht. Nie mehr.
Sie hatte es überwunden.
69
Es ist soweit, Quangel
Es ist noch Nacht, als ein Aufseher die Tür zu Otto Quangels Zelle aufschließt.
Quangel, aus tiefem Schlaf erwacht, sieht blinzelnd auf die große, schwarze Gestalt, die in seine Zelle getreten ist. Im nächsten Augenblick ist er hellwach, und sein Herz klopft schneller als sonst, denn er hat begriffen, was diese große, dort schweigend unter der Tür stehende Gestalt bedeutet.
»Ist es soweit, Herr Pastor?« fragt er und greift schon nach seinen Kleidern.
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