Sie konnte manchmal auf ihren Wanderungen durch die Zelle plötzlich vor der Hänsel stehenbleiben und sie fragen: »Warum machen Sie das eigentlich? Warum verklatschen Sie jeden? Hoffen Sie eine geringere Strafe zu bekommen?«
Die Hänsel wendete bei einer solchen Ansprache den Blick ihrer gelben, bösen Augen nicht von Trudel ab. Entweder antwortete sie gar nichts, oder sie sagte: »Denken Sie denn, ich habe nicht gesehen, wie Sie Ihre Brust gegen den Arm vom Pastor gedrückt haben? So ’ne Gemeinheit, einen halbtoten Mann noch verführen zu wollen! Aber warte, ich erwisch euch beide noch mal! Ich erwisch euch!«
Bei was die Hänsel den Pastor und die Trudel Hergesell erwischen wollte, blieb unklar. Trudel hatte für solche Schmähungen auch nur ein kurzes, spöttisches Auflachen und nahm dann wortlos ihre endlose Zellenwanderung wieder auf, immer mit dem Gedanken an Karli beschäftigt. Es war nicht zu verkennen, daß die Nachrichten über ihn stets schlechter wurden, so vorsichtig und schonend sie der Pastor auch abfaßte. Wenn es etwa hieß, daß nichts Neues vorlag, da sein Zustand unverändert sei, so bedeutete das, daß Karli ihr keinen Gruß bestellt hatte, was wieder so zu verstehen war, daß er besinnungslos lag. Denn der Pastor log nicht, das hatte Trudel auch schon gelernt, er bestellte keinen Gruß, wenn ihm keiner aufgetragen war. Er verschmähte jeden billigen Trost, der sich eines Tages doch als Lüge entpuppen mußte.
Aber auch durch die Vernehmungen durch den Untersuchungsrichter wußte Trudel, daß es schlimm mit ihrem Manne stand. Nie wurde auf eine neuere Aussage von ihm Bezug genommen, über alles sollte sie Auskunft geben, und sie wußte doch wirklich nichts über den Koffer des Grigoleit, der sie beide ins Unglück gerissen hatte. Wenn die Vernehmungsmethoden des Untersuchungsrichters auch nicht so bodenlos gemein und brutal waren wie die des Kommissars Laub, die gleiche Hartnäckigkeit wie Laub hatte er auch. Trudel kam von diesen Sitzungen immer völlig erschöpft und mutlos in ihre Zelle zurück. Ach, Karli, Karli! Ihn nur einmal wiedersehen dürfen, an seinem Lager sitzen, seine Hand halten dürfen, ganz still, ohne ein Wort!
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie geglaubt, sie liebte ihn nicht, sie würde ihn nie lieben können. Nun war sie wie durchtränkt von ihm, die Luft, die sie atmete, war er, das Brot, das sie aß, er, die Decke, die sie wärmte, er. Und er war so nahe, ein paar Gänge, ein paar Treppen, eine Tür – aber auf der ganzen Welt war kein Mensch so barmherzig, daß er sie einmal, ein einziges Mal nur zu ihm hingeführt hätte! Auch dieser schwindsüchtige Pastor nicht!
Sie hatten eben alle Angst um ihr liebes Leben, sie wagten nichts Ernstliches, um einer Hilflosen wirklich zu helfen. Und plötzlich kommt in ihre Erinnerung der Leichenkeller aus dem Gestapobunker, der lange SS-Mann, der sich eine Zigarette ansteckte und zu ihr »Mädel! Mädel!« sagte, ihr Suchen zwischen den Leichen, nachdem Anna und sie die tote Berta entkleidet hatten – und es scheint ihr, als ob das damals noch eine milde, barmherzige Stunde war, als sie Karli suchen durfte. Und nun? Eingeschlossen das zuckende Herz zwischen Eisen und Stein! Allein!
Die Tür wird aufgeschlossen, viel langsamer und sachter als es die Aufseherinnen tun, es klopft gar: der Pastor.
»Darf ich eintreten?« fragt er.
»Kommen Sie bitte, kommen Sie doch, Herr Pastor!« ruft Trudel Hergesell weinend.
Während die Frau Hänsel mit einem gehässigen Blick murmelt: »Was will der denn schon wieder?«
Und da lehnt Trudel plötzlich ihren Kopf gegen die schmale, rasch atmende Brust des Geistlichen, ihre Tränen fließen, sie verbirgt das Gesicht an seiner Brust, und sie fleht: »Herr Pastor, mir ist so angst! Sie müssen mir helfen! Ich muß den Karli sehen, nur einmal noch! Ich fühle, es wird das letzte Mal sein …«
Und die grelle Stimme der Frau Hänsel: »Das melde ich! Das melde ich aber sofort!« Während der Pastor ihr tröstend über den Kopf streicht und sagt: »Ja, mein Kind, Sie sollen ihn sehen, einmal noch!«
Da schüttelt sie ein immer stärkeres Schluchzen, und sie weiß, daß Karli tot ist, daß sie ihn nicht umsonst im Leichenkeller gesucht hat, daß es eine Vorahnung war, eine Warnung.
Und sie schreit: »Er ist tot! Herr Pastor, er ist tot!«
Und er antwortet, er spendet den einzigen Trost, den er diesen Todgeweihten spenden kann, er sagt: »Kind, er leidet nicht mehr. Du hast es schwerer.«
Sie hört es noch. Sie will darüber nachdenken, es richtig verstehen, aber es wird ihr dunkel vor den Augen. Das Licht erlischt. Ihr Kopf sinkt vornüber.
»Fassen Sie doch mit an, Frau Hänsel!« bittet der Pastor. »Ich bin zu schwach, sie zu halten.«
Und dann ist auch draußen Nacht, Nacht zu Nacht, Dunkel zu Dunkel.
Trudel, verwitwete Hergesell, ist aufgewacht, und sie weiß, daß sie nicht in ihrer Zelle ist, und sie weiß wieder, daß Karli tot ist. Sie sieht ihn wieder liegen auf seiner schmalen Zellenpritsche, mit dem so klein und jung gewordenen Gesicht, und sie denkt an das Gesicht des Kindes, das sie geboren, und beide Gesichter gehen ineinander über, und sie weiß, daß sie alles verloren hat auf dieser Welt, Kind und Mann, daß sie niemals wird lieben, nie wird Kinder gebären dürfen, und alles dies, weil sie für einen alten Mann eine Postkarte auf ein Fensterbrett gelegt hat, daß darum ihr ganzes Leben zerbrochen ist und das von Karli dazu, und daß es nie wieder Sonne und Glück und Sommer für sie geben wird, und keine Blumen …
Blumen auf mein Grab, Blumen auf dein Grab …
Und bei dem ungeheuren Schmerz, der sich immer weiter in ihr ausbreitet, der sie durchkältet wie Eis, schließt sie die Augen wieder und will zurück in Nacht und Vergessen. Aber die Nacht ist draußen, sie bleibt dort, sie dringt nicht in sie ein, aber plötzlich durchströmt Hitze sie … Sie springt mit einem Schrei vom Bett auf und will fort, nur laufen, diesem gräßlichen Schmerz entlaufen. Aber eine Hand faßt nach ihr …
Es wird hell, und wieder ist es der Pastor, der bei ihr gesessen hat, der sie nun festhält. Ja, es ist eine fremde Zelle, es ist Karlis Zelle, aber sie haben ihn schon fortgebracht, und der Mann, der hier mit Karli in der Zelle lag, ist auch fort.
»Wo ist er hingebracht?« fragt sie atemlos, als sei sie einen weiten Weg gelaufen.
»Ich werde an seinem Grab meine Gebete sprechen.«
»Was helfen ihm jetzt noch Ihre Gebete? Hätten Sie um sein Leben gebetet, als noch Zeit dafür war!«
»Er hat den Frieden, Kind!«
»Ich will hier fort!« sagt Trudel fieberhaft. »Bitte, lassen Sie mich zurück in meine Zelle, Herr Pastor! Ich habe dort ein Bild von ihm, ich muß es sehen, jetzt gleich. Er sah so anders aus.«
Und während sie so spricht, weiß sie sehr wohl, daß sie den guten Pastor belügt und daß sie ihn betrügen will. Denn sie besitzt kein Bild von Karli, und sie will nicht in ihre Zelle zu der Frau Hänsel zurück.
Und flüchtig schießt es ihr durch den Kopf: Ich bin ja wahnsinnig, aber jetzt muß ich mich gut verstellen, daß er es nicht merkt … Nur fünf Minuten noch meinen Wahnsinn verstecken!
Der Pastor führt sie sorglich an seinem Arm aus der Zelle über viele Gänge und Treppen in das Frauengefängnis zurück, und aus vielen Zellen hört sie tiefes Atmen – die schlafen – und aus andern rastlose Schritte – die sorgen sich – und wieder aus andern Weinen – die tragen Leid, aber niemand trägt soviel Leid wie sie.
Aber als der Pastor eine Tür auf- und hinter ihr wieder abgeschlossen hat, nimmt sie seinen Arm nicht wieder, und schweigend gehen die beiden weiter durch den nächtlichen Gang mit den Dunkelarrestzellen, aus denen der betrunkene Arzt gegen sein Versprechen die beiden Kranken nicht erlöst hat, und nun steigen sie viele Treppen im Frauengefängnis hinan bis zur Station V, wo die Trudel liegt.
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