Augenblicklich rebelliert etwas in mir gegen diese Behauptung. Schnee vom vorigen Jahr?
Das Ruhrgebiet und der Bergbau gehören in meiner Vorstellung einfach zusammen, sind geradezu identisch. Der Kohlenpott eben. Das hat man schließlich schon im Heimatkundeunterricht gelernt: Wir haben die Sage vom Schweinehirten gelesen, der zufällig die Kohle entdeckt haben soll; auf einer Karte von Gelsenkirchen mussten wir die Straßennamen heraussuchen, die mit dem Bergbau zu tun hatten: Bergmannstraße und Hauergasse leuchteten noch unmittelbar ein, St.Barbara-Straße und Schlägelstraße wurden erklärt. Flöz Dickebank wusste auch unser Frollein nicht so ganz genau. Sie kam nämlich aus Münster und war insgeheim stinksauer darüber, dass die Schulverwaltung sie in dieses „Drecksloch“ geschickt hatte.
Als wir in den 60er Jahren Verwandte in Nürnberg besuchen und ich als Kind immer wieder hören muss wie schön diese Stadt doch ist, sage ich schließlich aus lauter Wut, dass ich Gelsenkirchen aber viel schöner finde. Dem anschließenden Gelächter nach zu urteilen ein gelungener Witz. Dabei ist meine Reaktion über Jahrzehnte durchaus typisch für jemanden aus dem Ruhrgebiet: dem schlechten Image bei der Außenwelt entsprach immer eine nicht geringe Hochschätzung der Region durch die Einheimischen. Es ist eben immer die Frage, was aus welchen Gründen für wen „schön“ ist.
Innerhalb des Ruhrgebiets scheint dem schlechten Außenbild immer schon der Hang zur Unterscheidung im eigenen Laden entsprochen zu haben. Und das aus Gründen: in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird oft innerhalb weniger Jahre die einheimische Bevölkerung zur verschwindenden Minderheit. Die Not und die Aussicht auf Arbeit treiben Hunderttausende aus zumeist agrarisch bestimmten und wirtschaftlich rückständigen Regionen ins Ruhrgebiet. Ganz besonders gilt das für die Emscherzone, wo in einer Zeitspanne von nur 50 Jahren aus völlig unbedeutenden Dörfern Großstädte werden. Zumindest von ihrer Bevölkerungszahl her: Hamborn beispielsweise wird noch im Jahr 1910 mit über 100000 Einwohnern die kommunale Selbstverwaltung verweigert; man lebt dort also nicht in der Großstadt, sondern im größten Dorf Deutschlands. Auch heute noch lebt man zumindest verwaltungstechnisch ja nicht im Ruhrgebiet, sondern in einem sog. Ballungszentrum, das drei verschiedene Regierungsbezirke unter sich aufgeteilt haben und in dem die einzelnen Kommunen oft mehr gegen- als miteinander arbeiten.
Ein solches staatliches Vorgehen verhinderte natürlich zusätzlich die Identitätsfindung der Bevölkerung im Sinne einer bürgerlichen städtischen Gemeinschaft. „Dass unter solchen Verhältnissen das Wachsthum der Bevölkerung des Ortes ein ganz abnormales werden mußte, läßt sich nicht verkennen. Daß wir hier in sittlicher Beziehung unter dem Normalpunkt stehen, kann bei der abnormen Bevölkerung und beschränkten Seelsorge kein Wunder nehmen.“ Mit diesen Worten beklagt der Bürgermeister von Gelsenkirchen im ersten Verwaltungsbericht aus dem Jahr 1877/78 die ungesunde Sozialstruktur seiner Stadt. Es gibt viel zu viele Arbeiter, der bürgerliche Mittelstand fehlt fast völlig. Und folgerichtig ist jeder noch so kleine Kleinbürger mehr als ein Arbeiter. Etwas Besseres eben.
Dabei sind noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bergleute eine ständisch organisierte und relativ privilegierte Schicht der Bevölkerung; durch das sog. Direktionsprinzip sind alle am Bergbau Beteiligten - Gewerken und Arbeiter - einer unabhängigen staatlichen Bürokratie unterworfen, die vor allem die Bergleute vor privaten Gewinninteressen schützt. Als Gegenleistung für diese feudale Variante der „Subventionierung“ des Bergbaus verlangt der Staat allerdings unbedingte Loyalität. Erst durch das Allgemeine Bergrecht wird 1861 der Rechtsrahmen für eine kapitalistisch orientierte Produktionsweise im Bergbau endgültig festgeschrieben. Am Ende des 19. Jahrhundert ist aus dem ständisch-privilegierten Bergmann letztendlich der Industriearbeiter geworden, der dem Diktat der Unternehmerinteressen weitgehend schutzlos ausgeliefert ist, schließlich sogar ersetzbar durch jeden arbeitsfähigen Tagelöhner, so dass zu dem erheblichen Prestigeverlust ein zumeist nicht unerheblicher Verlust an sozialer Sicherheit und Einkommen hinzukommt.
Der Bergmann des Ruhrgebiets ist immer der Industriearbeiter gewesen, weitgehend ohne Traditionsbewusstsein, ohne Identität, oft diffamiert und verkannt. Es fehlt die große Tradition anderer Bergbaugebiete, und was der Bergmann des Ruhrgebietes dennoch an „Kultur“ im weitesten Sinne hervorgebracht hat, ist für die bürgerliche Gesellschaft immer zweite Wahl geblieben, schlechte Kopie im Stile des Gelsenkirchener Barock, von der bürgerlichen Kultur oft nur spöttisch belächelt und mit dem Flair des Peinlichen umgeben, von dem man sich doch besser distanziert. Über Jahrzehnte gilt das auch für die Überbleibsel der Industriegeschichte: Fördertürme, Werkhallen, Arbeitersiedlungen werden reihenweise platt gemacht. Dass auch sie Denkmäler (der vielleicht wichtigsten Epoche in der Menschheitsgeschichte) sind, wird erst spät Bestandteil des öffentlichen Bewusstseins. Bis zur Anerkennung eines Weltkulturerbes ist es ein weiter Weg. „Die Fähigkeit, die Materie spielerisch zu beherrschen“, meinte der Künstler Alfred Schmidt (verstorben 1997, erster Ehrenbürger des Ruhrgebiets), „hat den Bergleuten eine gewisse Souveränität gegeben, eine bestimmte Selbstgewissheit. Dies stand immer in krassem Gegensatz zur Einschätzung der Bergleute durch andere. Vor Kohle waren sie Könige, über Tage die untersten der Industriearbeiter. Das Verweigern der Anerkennung ist eine ständige Beleidigung dieser Menschen. Ungeheuerlich!“
Diese diffamierende Einstellung bleibt bewusst oder unbewusst noch lange in den Köpfen der Leute. Die „Volksschule“ Anfang der 60er Jahre lag direkt neben der Siedlung Schüngelberg der Zeche „Hugo“. Der größte Teil der Mitschüler stammte aus Bergarbeiterfamilien. Und er blieb auch auf dieser Schule. Nach dem vierten Schuljahr, 1964, gehen aus meiner Klasse von ungefähr 40 Schülern gerade mal vier zu weiterführenden Schulen. Unsere Väter sind kaufmännischer Angestellter, Polizeibeamter, Lehrer und Steiger. Steiger war zwar auch einer vom Pütt, aber eben doch etwas Besseres. Aber Arbeiterkinder haben auf dem Gymnasium ohnehin nichts zu suchen: Diese Fülle an Lebensweisheit wurde auf dem Max-Planck-Gymnasium in Gelsenkirchen noch Ende der 60er Jahre mit der größten Selbstverständlichkeit vertreten. Und nach dieser Maxime wurde auch gehandelt.
Oder der Ersatzdienst als Kriegsdienstverweigerer: ich arbeite Anfang der 70er Jahre in einem Krankenhaus in Gelsenkirchen-Horst, und die große Mehrheit der Patienten sind damals noch Bergleute auf der Zeche „Nordstern“. Der Umgangston ist rau, aber herzlich; vor allem duzt sich jeder mit jedem, und anfangs kann ich das einfach nicht, und schon nach kurzer Zeit habe ich den Ruf weg, ein feiner Pinkel zu sein. Als ich eines Tages von einem Patienten darauf angesprochen werde, schütte ich dem mein Herz aus, und der Pfleger, mit dem ich an diesem Tag zusammen Dienst habe, will sich fast totlachen: Na, wenn du sonst keine Probleme hast, ist es ja gut! Er selber ist einer der ersten Bergleute, die nach der Kohlekrise Ende der 60er Jahre in einen pflegerischen Beruf umgeschult haben. Und mit dieser Bemerkung ist sein Verständnis für mein Problem auch schon erledigt. Komm Kalle, wendet er sich wieder dem Patienten zu; heb mal die fette Dupa hoch, wir müssen weiter ....
Der Bergbau war immer viel zu selbstverständlich, als dass man als jemand aus dem Kohlenpott viel Aufhebens darum gemacht hätte, geschweige denn darauf in irgendeiner Weise hätte stolz sein können. Er war nie mehr als ein ebenso lästiges wie notwendiges Etwas, das die Industrialisierung im 19. Jahrhundert mitgebracht und an das man sich gewöhnt hatte, das sich durch Bergschäden an Straßen und Häusern, durch Ruß und Kohlenstaub auf der Wäsche ohnehin immer wieder in Erinnerung brachte. Von der Zersiedlung der Landschaft ganz zu schweigen: Mit Ausnahme der Städte der Hellwegzone, die zumindest über einen kleinen Kristallisationskern für eine urbane Entwicklung verfügten, konnte von kommunaler Planung kaum die Rede sein. Das Sagen hatten die Unternehmer, und wo man auf Kohle stieß, wurde ein Schacht abgeteuft, entstanden in der Folge Wohnmöglichkeiten zwischen Fördertürmen und Bauernhöfen. Noch heute kann man sich mit Fug und Recht fragen, ob die Städte des nördlichen Ruhrgebiets wirklich Städte sind oder nicht doch eher ein ziemlich chaotisches und zusammenhängendes Durcheinander von Siedlungen und Industriebrachen.
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