Der zweite Tag war mindestens ebenso anstrengend gewesen wie der erste. Isabell spürte die Müdigkeit. Ihr Kopf fühlte sich leer, die Glieder schwer an.
Sie hatte geahnt, dass ein Arbeitstag so aussehen würde. Nicht grundlos hatte sie sich über Lars und seinen Eifer gewundert.
Schon vor etwa einem Jahr, als er in den Beruf gestartet war, hatte sie sich gefragt, wie man auf die Idee kommen konnte, ein stinknormales Arbeitsleben herbeizusehnen. Wenngleich sie gewusst hatte, dass sie für ihren Lebensunterhalt zu jeder Zeit selbst würde sorgen müssen.
Bereits als Studentin hatte sie sich mit diversen studentischen Aushilfsjobs über Wasser gehalten. Von ihren Eltern hatte sie keine Unterstützung zu erwarten gehabt. Das, was sie verdienten, brauchten sie selbst. So hatte es dann auch keine Probleme gegeben, als sich abgezeichnet hatte, dass Isabells Studium über die Regelstudienzeit hinaus reichen würde. Und ihr war es sowieso gleichgültig gewesen, ob sie nun zwei oder vier Semester dranzuhängen hatte.
Schließlich war sie 27 Jahre alt geworden, bis sie ihren Master in der Tasche gehabt hatte. Zwischendurch hatte sie keinen Vierundzwanzigjährigen beneidet, der die Uni mit Abschluss verließ.
Soeben ertappte Isabell sich dabei, dass ihre Gedanken schon wieder um Uwe Holdt zu kreisen begannen. Als Typ war er durchaus interessant und Kröger hatte mit seiner Ansage von heute mehr denn je ihre Neugier geweckt. Und irgendwie auch ihren Jagdinstinkt gekitzelt.
Isabell war zu müde, um weiter nachdenken zu können und schloss die Augen. Vielleicht hatte sie Glück und der Zufall kam ihr zu Hilfe. Schließlich konnte man nie wissen, war das Letzte, was sie dachte, bevor sie einschlief.
Während der ersten Woche hatte sie die Tage gezählt und ab der zweiten war sie bereits durcheinandergekommen. Ein erster Wochenenddienst hatte dafür gesorgt, dass sie das Gefühl für einen normalen Wochenrhythmus verloren hatte.
Maria hatte sie in die Geheimnisse des Reservierungssystems eingeweiht und Isabell hatte den Kollegen an der Rezeption über die Schulter geschaut. Als an ihrem ersten Wochenende eine Kollegin krank geworden war, war sie eingesprungen. Am Montagmorgen war sie zu ihrem normalen Dienst erschienen und nach einem freien Samstag und Sonntag hatte sie Maria am darauffolgenden Wochenende zu einer Messe begleitet. Inzwischen war sie seit vier Wochen hier und hatte so gut wie nichts vom Ort und seiner Umgebung gesehen.
Jeden Morgen, wenn sie in den Spiegel schaute, sah sie die Augenringe, die sie sogleich wegschminkte. Sie hatte bereits damit begonnen, die zweite Ladung Kosmetika, die sie für ihren Spind eingekauft hatte, zu verbrauchen. Wenn alles so weiterginge, würde sie irgendwann mitten im Gespräch einschlafen, hoffentlich jedoch nicht im Beisein von Kröger. Ihn hatte sie während der vergangenen turbulenten Wochen kaum zu Gesicht bekommen und war froh darüber gewesen, brauchte sie doch keine zusätzliche Last, die ihren Alltag noch anstrengender machte.
Vor Kurzem hatte sie Maria gefragt, wie sie den Stress handhabte und Maria hatte ihr geantwortet, dass alles eine Frage der Gewöhnung sei.
Isabell konnte dem jedoch keinen Glauben schenken. Sie war schlicht nicht in der Lage dazu, sich vorstellen zu können, künftig immer in diesem Tempo arbeiten zu müssen. Dennoch hatte ihr der Messeaufenthalt besonders gut gefallen. Auch wenn er sie das Wochenende gekostet hatte.
Plötzlich fragte sie sich, ob sie bei all dem Trubel ein weiteres Meeting mit Uwe Holdt verpasst haben konnte. Diese Frage würde jedoch allein Maria beantworten können. Isabell würde sie ihr nachher stellen.
Ihr Blick ging zur Uhr, die ihre Tage mehr als jemals zuvor in ihrem Leben bestimmte. Rasch griff sie nach ihrem Schlüssel und der Tasche, schlüpfte in bequeme Schuhe und verließ ihr Appartement.
In diesen Schuhen konnte sie nicht nur gut laufen, sondern auch entspannt stehen.
Isabell hatte schon als Bedienung gewusst, wie man viele Stunden auf den Beinen einigermaßen schmerzfrei überstehen konnte und dass alles an gutem Schuhwerk hing. Dennoch wusste sie, dass zu ihren derzeitigen Outfits Schuhe mit Absatz einfach besser aussahen. Aus diesem Grund hatte sie in ihrem Spind die weniger komfortable Variante der Fußbekleidung deponiert und wechselte jeweils zu Dienstbeginn und -ende.
Diesmal war es Isabell, die vor Maria den Personalraum betrat.
Sie öffnete ihre Schranktür und bemerkte, dass soeben ein Zettel zu Boden gefallen war. Isabell bückte sich und nahm das Blatt Papier auf.
Sie las.
Der Zettel war für sie gedacht. Maria hatte ihn wahrscheinlich gestern Abend noch durch den Schlitz gesteckt. Sie schrieb, dass sie heute einen außerplanmäßigen Termin wahrzunehmen hatte und sie sich um zehn Uhr auf dem Golfplatz zum Meeting treffen würden.
Inzwischen wusste Isabell, wo der Platz lag. An einem ihrer freien Tage hatte sie nach ihrem Auto sehen wollen und sich spontan entschieden, einzusteigen und eine Runde zu fahren, um bessere Ortskenntnis zu bekommen.
Damals war sie auch den Hinweisschildern zum Golfplatz gefolgt und hatte am Eingang des Platzes gehalten. Sie war ausgestiegen und hatte sich angeschaut, was von außen einsehbar war. Da das nicht viel gewesen war, hatte sie keine weitere Zeit vergeudet, war wieder in ihr Auto gestiegen und weitergefahren.
Isabell dachte nach. In drei Stunden sollte sie dort sein. Für die Fahrt benötigte sie etwa zehn Minuten. Insofern würde sie noch Zeit haben.
Maria hatte ihr schon in der zweiten Woche ein ziemlich großes Schlüsselbund ausgehändigt. Seither konnte sich Isabell frei im Haus bewegen und hatte auch Zugang zu Marias Büro. Dorthin würde sie jetzt gehen.
Isabell wusste, dass Maria Ordner aufbewahrte, in denen alle Schriftstücke zum Golfplatzprojekt abgeheftet waren. Sie hatte ihr die Ablagesystematik erläutert und gesagt, dass die Dokumente nicht vertraulich waren und sie, falls sie Lust dazu haben würde, darin lesen durfte. Allein die Zeit hatte dafür bisher nicht ausgereicht.
Die plötzliche Gelegenheit begeisterte Isabell von Minute zu Minute mehr. Sie bemerkte, wie sie intuitiv ihren Schritt beschleunigte. Schon war sie angekommen und steckte den Schlüssel ins Schloss.
Nachdem sie eingetreten war, öffnete sie zuerst ein Fenster und spürte den frischen Luftzug. Für einen Augenblick harrte sie aus und atmete tief. Dann suchte sie nach einem passenden Ort für ihr Aktenstudium.
Als sie den ausfindig gemacht hatte, ging ihr Blick zur obersten Regalreihe. Dort standen die Ordner: Golfplatz allgemein, Golfplatz Protokolle (1), Golfplatz Protokolle (2),…
Die Reihe endete bei (9).
Sie würde es zeitlich nicht schaffen, alle Ordner durchzusehen, geschweige dann, intensiv zu lesen. Isabell blieb nichts weiter übrig, als sich eine Systematik zu überlegen, die sie in die Lage versetzte, innerhalb von reichlich zwei Stunden wenigstens einen Überblick zu bekommen.
Isabell stöhnte und dachte sogleich, dass die Zeit zwar knapp bemessen war, aber ausreichen musste, um sich mit dem notwendigen Koffein zu versorgen. Sofort hatte sie den ersten Schritt in Richtung der Espressomaschine getan. Dort angekommen, begann sie mit geübtem Handgriff, den köstlichen Trunk zu bereiten: Klein, fein, tiefschwarz. Isabell genoss bereits, während das Getränk, von einem Zischen begleitet, in die Tasse floss.
Schließlich war sie gerüstet. Isabell griff nach dem ersten Ordner mit der Bezeichnung „allgemein“, blätterte und las quer.
Querlesen hatte sie im Studium gelernt.
Sie blickte auf Grundbuchauszüge, Notarschreiben und Verträge. Isabell überflog die Namen der jeweiligen Vertragspartner und hielt erst inne, als sie den Namen der Betreibergesellschaft des Hotels las. Dieses Dokument schien ihr für ihr Verständnis wichtig zu sein und so begann sie, konzentrierter zu lesen.
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