Blieb ein Unsicherheitsfaktor: Holdt wollte seine Geschichte nicht preisgeben.
Isabell nahm beide Hände zu Hilfe, um sich frustriert die Bettdecke über den Kopf zu ziehen. Langsam fragte sie sich, wie ihre Tage und Abende aussehen würden. Mit Gästen oder Partnern durfte sie nicht sprechen, Freunde hatte sie hier und aller Wahrscheinlichkeit nach auch anderswo nicht. Die ehemaligen Kommilitonen arbeiteten verstreut in allen Landesteilen. Wie sie dort lebten, entzog sich ihrer Kenntnis.
Je genauer Isabell ihre Situation analysierte, umso mehr kam sie zu dem Schluss, dass sie sich in einer beschissenen Lage befand: Sie manövrierte sich nämlich gerade allein durch diese Welt.
Maria war bereits im Haus, als Isabell eintraf.
Sie hatte versucht, die Spuren der letzten zwei Stunden zu beseitigen, was ihr allerdings nicht gelungen zu sein schien.
Maria schaute ihr ins Gesicht und fragte: „Hast du geweint?“
Isabell überlegte einen kurzen Augenblick lang und war beinahe entschlossen, den Kopf zu schütteln, als sie sich anders entschied.
„Ja“, antwortete sie und sah Marias fragenden Blick. Kurz entschlossen winkte sie ab und sagte: „Vergiss es. Wird schon wieder. Aber sag mir doch bitte, woher Uwe Holdt kommt. Er hat gestern erzählt, dass er nach dem Mauerfall zum ersten Mal hier war. Damals fuhr er einen Golf 3. Das bedeutet, dass er auch aus dem Westen stammt.“
Maria nickte und antwortete: „Ja, der kommt gebürtig aus Hamburg, hat aber in Heidelberg studiert und promoviert.“
Isabell schwieg. Dann sagte sie: „Da du das weißt, gehe ich davon aus, dass du ihn schon länger kennst und ihr ab und zu auch mal außerhalb des Protokolls miteinander geredet habt.“
Maria nickte, während sie sagte: „Holdt ist ganz umgänglich. Ich kenne ihn seit etwa zehn Jahren.“
Isabell fragte sich sogleich, was es bedeutete, wenn Maria einschätzte, dass er umgänglich sei. Sie selbst hatte nie darüber nachgedacht, wie es sich für die Leute hier angefühlt haben musste, als der Grenzzaun sich geöffnet hatte und ihre Landsleute über diese Region hergefallen waren. Erst als sie sich selbst dazu entschlossen hatte, hierher zu kommen, hatte sie sich darüber Gedanken gemacht, dass sie in eine Gegend kommen würde, die sie nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte und deren Menschenschlag samt Befindlichkeiten sie nicht kannte.
Tatsächlich hatte sie sich letztlich bewusst zu diesem Cut entschieden.
Sie war hierhergekommen, um einmal zu sehen, wie es sich anderswo lebte. Und wenn sie ehrlich war, war sie auch auf der Suche nach dem Leben, das sie künftig leben wollte.
Während Isabell noch immer grübelte, hörte sie plötzlich das Klingeln eines Telefons.
Intuitiv griff sie nach ihrem Gerät, das auf dem Pausentisch vor ihr lag. Es handelte sich jedoch nicht um einen Anruf für sie, wie sie soeben feststellte. Isabell blickte zu Maria, sah sie nicken und hörte sie sagen: „In Ordnung. Ich gebe ihr Bescheid.“
Maria schwieg. Sie schien nachzudenken. Kurz darauf meinte sie: „Du sollst zu Kröger kommen. Keine Ahnung, was er von dir will. Seine Assistenz wusste es auch nicht.“
Isabell beschlich eine Ahnung.
Hatte dieser Besuch mit der unerlaubten Nutzung des Gästeparkplatzes zu tun? Sie runzelte die Stirn und dachte, dass, träfe ihre Vermutung zu, Kröger aus einer Mücke einen Elefanten machte.
„Dann werde ich mal gehen“, sagte sie und war bereits aufgestanden.
Auf gar keinen Fall wollte sie ihre Situation noch verschlechtern. Deshalb lief sie forschen Schrittes zur Tür. Bevor sie die hinter sich zuzog, drehte sie sich noch einmal um und sagte: „Maria, halt mir meinen Platz frei.“
Während sie auf Krögers Büro zusteuerte, gingen ihre Gedanken wild durcheinander. Nicht ohne Grund hatte sie den Satz zu Maria gesagt. Isabell war tatsächlich im Moment nicht sicher, ob Kröger vorhatte, ihr Praktikum zu beenden, bevor es begonnen hatte. Am gestrigen Nachmittag hatte sie sein Verhalten studiert und war zu keinem endgültigen Schluss gekommen. Auf alle Fälle hatte sie jedoch bereits während des Meetings gedacht, es sei besser, ihm aus dem Weg zu gehen. Sein übertriebenes Gehabe, während er sie vorgestellt hatte, seine Gestik, als der Vertriebschef sprach und widersprach und letztlich sein Verhalten gegenüber Uwe Holdt, hatten sie zur Vorsicht gemahnt. Auch aus diesem Grund hatte sie sich an der Bar weit entfernt von ihm niedergelassen.
Isabell hatte sein Büro erreicht und angeklopft. Prompt hörte sie von innen ein „Ja“ und trat ein. Sie begrüßte die Dame, die im Vorzimmer saß und ihr in diesem Moment mit einem Wink zu verstehen gab, dass sie zu Kröger durchgehen sollte. Seine Tür stand offen und Isabell konnte ihn hinter seinem Schreibtisch sitzen sehen.
Nachdem sie eingetreten war, hob Kröger zuerst den Kopf und anschließend seinen Hintern vom Stuhl. Er kam auf Isabell zu und reichte ihr die Hand. Im Gegensatz zu gestern, bot er ihr einen Stuhl an und nahm selbst Platz, nachdem Isabell sich gesetzt hatte.
„Ich will nicht lange um den heißen Brei reden“, sagte er und setzte fort: „Sie wissen bereits, was ich Ihnen sagen will.“ Vorsichtshalber nickte Isabell und schwieg.
„Ihr Fahrzeug gehört nicht auf den Gästeparkplatz“, belehrte er sie und Isabell hoffte, das Thema möge sich nun erledigt haben. Sie war inzwischen fest entschlossen, sich bei ihm hochoffiziell für ihr Fehlverhalten entschuldigen zu wollen. Vielleicht würde er sie dann gehen lassen.
Bevor sie jedoch irgendetwas sagen konnte, sprach Kröger weiter: „Und unsere Geschäftspartner sind für Sie tabu.“
Isabell hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass er sie wegen Uwe Holdt angehen würde. Sie hatte nichts verbrochen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie nicht an der Bar gesessen. Eine Stunde früher hätte sie ihre Einkäufe erledigen können und ebenso eine Stunde früher hätte sie schlafen können.
Isabell atmete tief durch und schwieg.
„Ich hoffe, wir haben uns verstanden“, sagte Kröger. „Sie können an ihre Arbeit zurückgehen.“
Isabell stand auf, sah ihn an, sagte „Auf Wiedersehen“ und verließ erhobenen Hauptes den Raum. Als sie die Tür seines Vorzimmers hinter sich geschlossen hatte, schaute sie sich um.
Isabell wollte sichergehen, allein zu sein. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass wirklich niemand in der Nähe war, sagte sie leise: „Arschloch“. Währenddessen verdrehte sie die Augen.
„Ich hatte eine Nacht lang mein Auto auf dem Gästeparkplatz stehen. Kröger hat das gestern mitbekommen und mir soeben einen hochoffiziellen Tadel ins Klassenbuch geschrieben“, sagte Isabell an Maria gerichtet, die im Pausenraum auf sie gewartet hatte. Dabei hatte sie sich genau überlegt, was sie Maria sagen würde und was nicht. Schließlich kannten sie sich keine 48 Stunden.
„Lass uns nochmal über Uwe Holdt reden. Weißt du, was er tut, wenn er sein Geld nicht in Golfplatzerweiterungen steckt? Er ist doch Jurist“, fragte Isabell, um von ihrem Kurzbesuch bei Kröger abzulenken.
„Holdt arbeitet in einer ziemlich bekannten Rechtsanwalts- und Steuerberatungskanzlei. Soweit ich weiß, ist er dort Partner“, antwortete Maria. „Die sind seit mehr als zehn Jahren hier tätig. Sind auf Bauträger und Immobiliengeschäfte spezialisiert.“
Offensichtlich besaß Maria ein ziemlich umfangreiches Portfolio an Informationen. Isabell nickte und beschloss spontan, diese Quelle später nochmals anzuzapfen zu wollen. Maria schien nichts bemerkt zu haben. Somit würde Isabell heute Abend in Ruhe darüber nachdenken können, wie sie weiter vorgehen wollte. Das, was Kröger ihr unterstellt hatte, würde sie nicht auf sich beruhen lassen. Unabhängig davon, weshalb Kröger diese Nummer abgezogen hatte.
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