„Sie fragen sich, wie lange ich Sie schon beobachten lasse, Genosse“, erriet Stalin.
„Ich bin vielmehr erfreut, dass meine Arbeit nicht unbeachtet geblieben ist. Leider konnte ich sie seit 1941 nicht mehr fortsetzen.“ Das war wahrscheinlich das Mutigste, was jemals irgendwer Stalin gegenüber gesagt hatte, ohne umgehend auf Nimmerwiedersehen nach Sibirien verfrachtet zu werden.
„Ich fand, dass Sie unserer Sache an der Front besser dienen würden, als in Ihrem Labor, in dem Sie in den letzten sechs Monaten vor Kriegsanfang, genauer gesagt seit dem Tod Ihrer Verlobten, keine nennenswerte Erfolge mehr erbracht hatten.“
Das überraschte Igor. Nicht die Tatsache, dass man ihn wohl schon in den Dreißiger Jahren beobachten hatte lassen, sondern, dass der Diktator sich ihm gegenüber rechtfertigte und das mit einem Satz, der länger war, als alles, was man je von Stalin an einem Stück gehört hatte. Der Mann mochte Igor.
Beide schwiegen eine Weile.
„Ich werde ein Genforschungsprogramm ins Leben rufen, das seinesgleichen sucht. Unbegrenzte Ressourcen aller Art. Sie werden es alleinverantwortlich leiten und mir direkt berichten, nur mir! Alle sechs Monate wird das Personal komplett ausgetauscht und, nun ja, versetzt. Außer mir und Ihnen wird niemand das Projekt in seiner Gesamtheit und dessen Resultate kennen. „
„Jawohl, Genosse Vorsitzender!“
„Wegtreten!“ flüsterte Stalin.
Als Igor sich umdrehen wollte, um den Raum zu verlassen, bemühte er sich, seine große Erregung zu verstecken.
In diesem Moment sagte Josef Stalin: „Noch etwas. Wir stehen kurz vor der Eroberung des Konzlagers in Auschwitz. Sie werden dort dabei sein und sämtliches medizinische Material sichten und sichern. Niemand sonst wird Einsicht darin erhalten. Deckname der gesamten Operation ist ‚Arche Noah’. Ich bin überzeugt, der Feind ist beim Thema Genforschung wesentlich weiter als Sie.“
Innerhalb weniger Minuten war Igor seinem Lebenstraum um Lichtjahre näher gekommen.
Auschwitz, 27. Januar 1945
Es war furchterregend. So etwas Schauderhaftes hatte Igor selbst in seinen schlimmsten Albträumen noch nicht gesehen. Er wusste nicht, welcher Anblick schlimmer war. Die noch nicht oder nur teilweise zugeschütteten Massengräber oder die lebenden Gefangenen, von denen viele keine vierzig Kilogramm mehr wogen, Erwachsene wohlgemerkt!
Ein paar Stunden zuvor hatte die Rote Armee das berüchtigte Todeslager an einem kalten Samstag erreicht. Eine nennenswerte Gegenwehr der Deutschen hatte es nicht gegeben, trotzdem war in den ersten Minuten danach gefeiert worden, als läge gerade eine schwere Schlacht hinter den sowjetischen Soldaten. Kein Wunder, hatten sie doch ungemein schwere Wochen des Marsches und Kampfes in der eisigen Kälte Richtung Westen hinter sich. Anders als hier und heute wehrten sich die Nazis auf ihrem Rückzug seit Monaten vehement, daher starben täglich noch immer tausende Menschen um Igor herum, hüben wie drüben. Er sollte sich eigentlich inzwischen ans Sterben und Töten gewöhnt haben, aber dem war überhaupt nicht so. Jedes Mal, wenn jemand starb, oder noch schlimmer, wenn er selbst gezwungen war, jemandem brutal das Leben zu nehmen, musste sich Igor sehr zurückhalten, um sich nicht sofort zu übergeben. Manchmal konnte er sich aber nicht mehr zurückhalten und ließ sich gehen. Er würde sich nie an Mord und Totschlag gewöhnen können, egal unter welcher Fahne und Prämisse dies auch geschah.
Er erinnerte sich noch genau an das erste Mal, als er selbst abgedrückt hatte, damals in Stalingrad, an einem trüben Novembermorgen des Jahres 1942. Die Deutschen hatten einen russischen Schützengraben gestürmt, als Igor gerade dabei war, die Blutung eines Kameraden zu stoppen. Ein großer, dunkelhaariger Nazi hatte kaltblütig den Verletzten erschossen, der wehrlos und stark blutend am Boden gelegen hatte. Danach hatte er seine Waffe auf Igor gerichtet und abgedrückt, vergebens. Die Patronenkammer war leer gewesen, oder die Munition unbrauchbar, Igor wusste es bis heute nicht. Jedenfalls hatte er schnell die Waffe des verstorbenen Soldaten ergriffen, gezielt und geschossen. All das war in weniger als eine Sekunde geschehen. Der Kopf des Nazi war zerborsten und seine graue Gehirnmasse an die lehmige Wand des Grabens gespritzt, wo sie sich langsam mit nasser, brauner Erde vermischt hatte.
Igor hatte damals seinen starken Brechreiz zurückgehalten und sofort die Flucht ergriffen, immer den anderen wegrennenden Kameraden hinterher und die Pfeifgeräusche der tödlichen deutschen Kugeln hörend. Danach hatte er mehrere Nächte nicht schlafen können. Immerzu waren ihm der überraschte Blick des Deutschen und dann dessen explodierender Kopf gegenwärtig gewesen. Er sollte dieses schreckliche Bild sein Leben lang vor Augen haben.
Die Rotarmisten hörten noch schneller auf zu singen und grölen, als sie es wenige Minuten zuvor begonnen hatten, sobald sie die ersten Häftlinge im Lager erblickten. Diese hatten große Angst, da sie ja nicht wissen konnten, wer die Neuankömmlinge waren und welches zusätzliche Leid ihnen nun vielleicht widerfahren würde.
Sie sahen allesamt schrecklich aus, abgemagert und zum Teil splitternackt. Sie stanken so intensiv, dass einige Soldaten sich bereits ihre Gasmasken übergezogen hatten. Die Bilder, die sich ihnen boten, waren um ein Vielfaches unfassbarer, als es die Gerüchte um dieses Konzentrationslager hatten vermuten lassen. Mehrere Rotarmisten übergaben sich, andere weinten und wieder andere umarmten verzweifelt einen oder gleich mehrere Häftlinge. Es gab auch welche, die sofort kehrt machten, um sich nicht mit irgendwelchen Krankheiten anzustecken. Es herrschte das totale Chaos. Zu hören war aber vor allem lautes Weinen von Russen und Insassen gleichermaßen. Einige Frauen und Säuglinge schrieen.
Ringsherum waren dutzende dunkler Häftlingsbaracken, präzise in mehreren Reihen angesiedelt. Dort hatten diese armen Menschen wie Tiere zusammengepfercht für Monate oder sogar Jahre hausen müssen. Und überall dieser Gestank!
Igor konnte all das kaum fassen, er würde es nie fassen können, auch Jahrzehnte später nicht.
Wie brutal konnte ein Mensch nur sein? Wie weit konnten Ehrgeiz, Gier, Sextrieb, Liebe, Hass, Neid, Stolz, Sucht und alle die anderen gefährlichen Gefühle einen Menschen nur bringen? Was hatten die Evolution und die Zivilisation der letzten Jahrhunderte der Welt eigentlich beschert? Der Mensch war das einzige Wesen überhaupt, das aus Gründen tötete, die mit Verteidigung oder Nahrungsaufnahme und deren Beschaffung nichts zu tun hatten.
Der Mensch war zu einem Störfaktor im Gleichgewicht der Erde geworden, und je mehr er sich weiterentwickelte, desto schlimmer wurde es. Igor machte sich nichts vor. Er wusste dass es solche Lager nicht nur bei den Deutschen gab. Außerdem war er seit nunmehr einunddreißig Monaten wieder und wieder Zeuge hunderter unnötiger Gräueltaten geworden, die durch den Krieg als solches längst nicht mehr zu rechtfertigen waren, auch von Seiten der Russen. Es gab anscheinend keinen Ausweg aus dieser bereits seit Jahrtausenden andauernden Spirale des Todes und des Schreckens. Oder vielleicht doch?
Igor erinnerte sich wieder an seinen Auftrag. Er schritt entschlossen auf die Baracken zu, die mit einem roten Kreuz auf weißem Hintergrund gekennzeichnet waren. Praktischerweise standen diese alle beieinander. Dort angelangt, rief er einige Soldaten zu sich.
„Genossen, sie, sie, sie und sie! Schnappen sie sich jeweils zwei Kameraden und sichern Sie die Eingänge aller Lazarette!“ befahl er.
„Und Sie Sergeant, nehmen Sie Ihre Einheit und durchforsten Sie alle Baracken, alle, verstanden? Jede einzelne! Sollten Sie irgendeine finden, die innen nicht wie eine gewöhnliche Häftlingsbaracke aussieht, sagen Sie mir sofort Bescheid, sofort, verstanden? Vor allem, wenn es wie ein Labor oder so ähnlich aussehen sollte. Alles, was Ihnen suspekt vorkommt, sofort melden! Schnell, schnell! Niemand außer mir darf dann in diese Baracken, Befehl vom Generalleutnant persönlich!“
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