Ende des Sommers erhalten wir von einem jüdischen Polizisten einen Hinweis: Die Provinzstadt Oszmiana bei Wilna soll liquidiert werden. Wir schicken ein Mädchen, Lisa, in die Stadt, um die Juden zu warnen. Sie sollen in die Wälder fliehen. Nur wenige glauben ihr. Sie redet immer noch auf die Menschen ein, als die Soldaten die Stadt stürmen. Niemand hört wieder etwas von Lisa. Seitdem ist der Aufruf zum Kampf im Wilnaer Ghetto: „Lisa ruft! Lisa ruft zum Kampf, zum Aufstand! Lisa ruft euch in den Tod!“
Wir hören, dass sogar jüdische Soldaten die Bewohner im Glauben bestätigten, dass sie in eine neue Heimat gebracht würden. Auch von ihnen hat niemand wieder etwas gehört.
Im Juli 1943 wird ein junger Kommunist in Wilna verhaftet. Die Gestapo will von ihm die Identität eines bestimmten Kommunisten erfahren, bekannt unter dem Namen „Der Löwe“. Nach vielen Stunden Folter sagt der Junge, „Der Löwe“ sei der Deckname für Isaak Wittenberg, unserem Anführer im Ghetto. Danach schneidet sich der Junge die Kehle durch. Gens wird gezwungen, Wittenberg, Glassmann und Kovner zu sich zu rufen. Dort dringt die SS ein und verhaftet Wittenberg. Ich werfe Gens Verrat vor, er entgegnet, der Preis sei die Liquidierung des Ghettos gewesen. „Tausende von Juden für einen Kommunisten?“
Als der Untergrund Wittenberg befreit, fordert Gens seine Auslieferung. Er hetzt die Ghettobewohner auf, bis ein entfesselter, wütender jüdischer Mob Häuser und Wohnungen stürmt, um Wittenberg zu suchen. Rabbis aus dem Jüdischen Rat suchen uns auf und fordern uns auf, Wittenberg herauszugeben: „Rettet das Ghetto“, appellieren sie.
Es wird klar: Wenn die Deutschen das Ghetto stürmen, müssen wir zuerst gegen Juden kämpfen, bevor wir uns den Deutschen stellen. Aber ich wollte nie gegen Juden kämpfen.
Wir gehen zu Wittenberg, der nach einer Weile sagt: „Wir töten keine Juden.“ Dann stellt er sich bei Gens, gibt mir vorher seinen Revolver und sagt: „Du bist jetzt der Anführer.“
Gens gibt ihm eine Kapsel Blausäure mit, die er sich ins Ohr stecken soll. Am nächsten Morgen findet man ihn tot in seiner Zelle.
Mitteilung an den Untergrund:
„Aufgrund der tragischen Lage, in der wir uns befinden, hat unser Kommandant Wittenberg sich mit seinem und unserem Einverständnis der Gestapo gestellt. Wahrscheinlich wird die Nachwelt uns dies zum Vorwurf machen. Wahrscheinlich wird lange Zeit niemand wissen, in welcher Zwickmühle wir waren und dass unser Handeln der großen Verantwortung entsprang, die wir für das Ghetto und seine Bewohner empfinden, gegen die wir nicht kämpfen wollten. Wittenbergs Name wird eng mit dem Leben unseres Volkes verbunden sein, und uns bleibt er ein Sinnbild für Tapferkeit und Heldenmut. Die erste Kampftruppe, die in die Wälder geht, wird nach ihm benannt werden. Wir werden das Andenken unseres Kommandanten im Kampf gegen den Feind in Ehren halten.“
Es ist eine bittere Lehre, dass die Juden im Ghetto nicht zu einem Aufstand zu bewegen sind. Vielleicht angesichts der Lastwagen und Güterwaggons bei der Liquidierung, die kommen wird. Aber es gilt, die Kampfgruppen in die Wälder zu schicken, bis auf vielleicht hundert Kämpfer.
Am 27. Juli 1943 verlässt die Gruppe „Löwe“ in Holzarbeiterkleidung das Ghetto, Handgranaten und Gewehre unter den Mänteln. Es folgen immer weitere.
Am 1. September 1943 ist es soweit: Deutsche Soldaten marschieren durch das Ghettotor, um zweitausend Juden für estnische Arbeitslager zusammenzutreiben. Das erste Bataillon legt sich in der Straschunstraße in einen Hinterhalt. Noch einmal gibt es einen Aufruf an alle Juden im Ghetto: „Es gibt einen organisierten jüdischen Widerstand im Ghetto, der sich erheben wird. Unterstützt den Aufstand! Geht hinaus auf die Straße. Wer keine Waffe hat, der nehme eine Axt. Und wer keine Axt besitzt, der nehme ein Rohr oder einen Stock. Für unsere Väter! Für unsere ermordeten Kinder! Rächt euch für Ponar, erschlagt die Mörder! Juden! Wir haben nichts zu verlieren! Tod den Mördern!“
Aber niemand rührt sich. Gens erreicht es, dass die Truppen noch einmal abziehen.
Wenig später wird Gens von den Deutschen verhaftet und erschossen.
Am 23. September 1943 werden alle Juden im Ghetto aufgefordert, sich im Hof des Rathauses einzufinden. Ein Gestapo-Offizier verliest den Befehl, das Ghetto unverzüglich zu räumen. Man trennt die Frauen und Kinder von den Männern. Das ist das Ende von Wilnas Juden.
Es gibt noch zwei Gruppen von Kämpfern mit etwa 30 Männern und Frauen. Wir verlassen das Ghetto durch die Kanalisation, steigen außerhalb aus und gehen zu zweit als Pärchen getarnt aus der Stadt aufs Land, in die Wälder bis nach Rudnicki, einem sumpfigen Landstrich im Süden Litauens.
Am 1. September 1943 haben wir uns zuletzt gesehen. Im Ghetto in Wilna marschierten um fünf Uhr früh deutsche Soldaten durchs Tor, um zweitausend Juden für ihre Arbeitslager zusammenzutreiben. Mit aufgepflanztem Bajonett stürmten sie durch die Straßen und ärmlichen Gassen. Ein Kundschafter des Untergrunds rannte von Haus zu Haus, kletterte in Höfe, durch Fenster und weckte Menschen und flüsterte: „Lisa ruft!“
Die jungen Männer und Frauen eilten auf die Straße. „Lisa ruft!“ war der Befehl, sich sofort zum Treffpunkt seines Bataillons zu begeben. Wir vom zweiten Bataillon trafen uns in der Nähe des Krankenhauses. Wir warteten auf dem Platz auf die Waffen, die ein Kurier von einem Versteck bringen würde. Eine Minute nach der anderen verstrich. Ein jüdischer Polizist redete mit einem deutschen Offizier. Und plötzlich war das Zweite Bataillon von feindlichen Soldaten eingekreist. Wir wussten alle, was los war: Ein Spion hatte dem jüdischen Polizeichef des Ghettos, Jacob Gens, den Treffpunkt verraten und der lieferte uns nun ans Messer.
Der Kommandant des Bataillons rief zum Angriff und alle stürzten mit bloßen Händen auf die Soldaten los, schlugen, traten, wurden niedergeschlagen. Ich hatte mich schon auf einen Innenhof durchgekämpft, als ich im Durchgang sah, wie meine Kameraden die Hände erhoben. Ich dachte an meine Eltern, meine Schwestern, die alle gestorben waren, ermordet, an meine Kameraden. Ich wollte nicht mehr alleine zurückbleiben. So ging ich mit erhobenen Händen aus dem Hof und sagte: „Ich ergebe mich.“ Ein Soldat, ein Estländer, schlug mich ins Gesicht und stieß mich mit dem Kolben zu den anderen. Dann brachten sie uns zu Güterzügen.
Sie brauchten uns tatsächlich. Wir fuhren nicht nach Ponar, was unser Ende bedeutet hätte, das hatten wir oft genug mitbekommen. Meine erste Station war Kortla Java, wo ich im Sumpfland an Straßen arbeiten musste. Nachts hörten wir Granaten und Maschinengewehrfeuer. Die Rote Armee war schon in Hörweite. So schickten sie uns die Narwa entlang nach Suski, wo wir für die Deutschen Gleise verlegen mussten. Inzwischen war es Winter, die Temperatur fiel auf minus dreißig Grad. Die Toten schleppten wir selbst beiseite, sie wurden verbrannt. Dann ging es weiter nach Westen, immer auf der Flucht vor den Russen bis zu einer Gießerei, wo ich in der Schmiede arbeitete. Draußen reichte uns der Schnee bis zur Brust. Schließlich landete ich in Tallinn, der verschneiten Hauptstadt Estlands. Sehnsüchtig blickte ich auf die friedlichen Häuser jenseits der Gleise. Etwas in mir wollte sich einfach hinlegen und mit diesem Bild einschlafen für immer. Doch dann fühlte ich, dass mein Weg noch nicht zu Ende war. Ich wollte den Krieg, dieses Massentöten und Massensterben überleben, wollte meine Freunde wiedersehen und – so Gott will – unsere Peiniger vernichten. So stand ich auf und ließ mich weiterstoßen zum Hafen.
Im Bauch des Schiffes lagen wir zusammengepfercht, aber zur Untätigkeit verdammt. Meine Gedanken wanderten zurück in die Kindheit, zurück in das kleine Dorf in Litauen, in dem ich geboren wurde, zu früh, so dass der Rabbi mich zu schwach hielt für die brit mila, die rituelle Beschneidung. Außerdem entpuppte ich mich zusehends als blonder und blauäugiger Junge, der insgesamt äußerlich gar nichts Jüdisches an sich hatte. Rebecca, sagte mein Vater im Scherz, wem hast du da zu tief ins Auge geguckt? Dem Ziegenhirten? Aber die Litauer hassten uns Juden und mein Vater starb, als er einen Brand löschen wollte, den sie verursacht hatten. Meine Mutter hängte sich auf, als nach den Russen die Deutschen kamen. Sie ahnte wohl unser Schicksal voraus. Ich bin noch mit meinen Schwestern ins Ghetto gezogen, wurde dort aber von ihnen getrennt und sie landeten mit einem Transport in Ponar. So blieb ich alleine und wurde bald vom Untergrund entdeckt, der sich mein Aussehen zunutze machte. Ich wurde jüdischer Agent außerhalb des Ghettos und verpackte in einer Munitionsfabrik Bomben. Spät in der Nacht, ich arbeitete freiwillig länger, schmuggelte ich jeweils eine Waffe aus dem Betrieb und brachte sie ins Ghetto. 1942 explodierte ein Initialzünder in meinen Händen. Ich verlor fünf Finger: drei an der rechten und zwei an der linken Hand. Damals haben die Deutschen wirklich gut für mich gesorgt: ein Arzt versorgte und behandelte meine Wunden, einen Monat lang erhielt ich leichtere Arbeit. So gingen sie mit einem vermeintlichen Arier um. Ich habe alles getan, um das Ghetto verteidigen zu können. Es hat nichts geholfen.
Читать дальше