„Waren es die Originale?“ Die Frage des Leiters der SK Van Gogh wurde bisher von noch Niemandem gestellt. Aber es war eine Frage, die auf eine Verneinung drängte. Die auf eine Verneinung, eine erlösende Verneinung, hoffte. Denn dann wäre es nur noch Brandstiftung gewesen. Wenn auch in in einem Heiligtum. Einem Heiligtum der Malerei.
Als der Museumsdirektor zur Antwort ansetzte, hielten einige Teilnehmer der Besprechung den Atem am.
„Selbstverständlich waren es die Originale!“
„Kein Zweifel?“
„Kein Zweifel! Die Bilder wurden in unregelmässigen Abständen geprüft.“
„Ich möchte trotzdem, dass die Reste untersucht werden. Vielleicht wurden sie vorher ausgetauscht.“ Der SK-Leiter wollte auf Nummer Sicher gehen. „Es gibt doch Reste, oder?“
Es folgten die Berichte der einzelnen Abteilungen. Die Untersuchung des verwendeten Explosivstoffes ergab, dass es sich um einen hochexplosiven Brandbeschleuniger handelte, eine Weiterentwicklung von Napalm. Ein Stoff, der in kurzer Zeit grosse Hitze entwickelt. Kein Stoff, der frei verkäuflich war.
„Was ich nicht ganz verstehe ist,“ ein bisher stiller Beobachter führte seine Frage aus, „warum nur vier Wachmänner das Museum bewachten. Der letzte Van Gogh, der versteigert wurde, erbrachte so etwas um die 180 Millionen Dollar. Wenn ich das auf das Museum hochrechne, wäre eine ganze Kompanie Wachleute noch zu wenig gewesen.“
Bevor der Museumsdirektor erklären konnte, schaltete sich der Chef des Amsterdamer Überwachungsdienstes ein: „Eines meiner Überwachungsteams hat ständigen Zugriff auf die Kameras des Museums. Innerhalb von zwei Minuten steht ein Spezialkommando von 12 Mann am Museum, wenn etwas passiert!“
Ein Gemurmel erhob sich in dem Raum, das abrupt abbrach, als der SK-Leiter die Frage stellte, die alle betraf: „Der Täter ging seinem Werk mindestens 20 Minuten gänzlich ungestört nach. Was lief da schief?“
„Wir wissen es noch nicht, aber so wie es aussieht, hat sich jemand in unser System gehackt und den Überwachungsfilm vom Vortag auf den Überwachungsmonitor bei der Polizei überspielt.“
„Das kann doch gar nicht möglich sein!“
„Wir haben uns das Video angeschaut und verglichen. Henrik Hasselbach putzt sich an zwei Tagen hintereinander genau um 19.10 Uhr an der selben Stelle, vor Van Goghs Selbstporträt, die Nase. Wir wissen nur noch nicht, wie jemand in unser geschlossenes System gelangen konnte.“
„Kommen wir zum Motiv: Warum? Ist es möglich, dass die Bilder vorher ausgewechselt wurden? Ich erinnere daran, dass die Überwachungsvideos manipuliert wurden!“ Sein Blick schweifte an dem großen ovalen Tisch von einem Anwesenden zum nächsten. „Oder will ein Sammler den Preis in die Höhe treiben?“
Der Chef des Amsterdamer Überwachungsdienstes schaltete sich wieder ein: „Wir haben die Aufzeichnungen sämtlicher Zufahrtsstrassen und überwachten Gebäude um das Museum herum ausgewertet. Bis vor zehn Tagen, als die letzte Echtheitsprüfung stattfand. Es gab keinen Abtransport von Bildern. Und auch keine weiteren Manipulationen am Überwachungssystem!“
„Was ist mit dem Täter?“ Der Abgesandte des Innenministeriums hatte lange geduldig zugehört. Für ihn bedeutete alles nur: Keine Ergebnisse. Bevor jemand etwas sagen konnte, richtete er eine weitere Frage auf den Mann im Hintergrund, der um Mitternacht noch nicht dabei war. „Vielleicht kann uns der Abgesandte des ESS weiterhelfen?“
Dieser erhob sich, ging ein paar Schritte nach vorne und antwortete dann: „Sie werden ihn nicht finden! Nicht mit dem Standardablauf.“
„Wer sind Sie überhaupt?“, fuhr ihn der Leiter der SK Van Gogh an.
„Anthony Brown, European Security Service!“ Für die Anwesenden war klar, dass es sich um einen Decknamen handelte. Er hätte sich auch James Bond nennen können. Viele nannten ihre Kollegen vom Nachrichtendienst auch verächtlich nach dem Filmhelden.
„Und was macht Sie so sicher, Mister James Bond?“ Der SK-Leiter stand als Polizist dem Geheimdienst von Haus aus misstrauisch gegenüber.
„Es ist alles sehr professionell! Und wir können sicher davon ausgehen, dass er kein Einzeltäter ist. Da steckt mehr dahinter!“ Er wirkte auf die Anwesenden arrogant. Und mit einem spöttischen Lächeln fuhr er fort: „Was steht in dem Brief?“
Alles blickte wieder gespannt auf den Leiter der SK Van Gogh. Dieser hielt seinem "Kollegen" vom ESS das in Folie verschweißte Papier hin. „Nichts! Nichts von Bedeutung.“
Die Pressekonferenz fand zwei Tage später in einem Anbau des Van-Gogh-Museums statt. Der Raum wurde bisher für Multimedia-Vorführungen über das Leben, das Werk und die Zeit von Vincent Van Gogh genutzt und eignete sich aufgrund seiner Ausstattung hervorragend für die Präsentation der Polizeiarbeit.
In der Mitte des langen Tisches saß der Leiter der Sonderkommission, der die Konferenz eröffnete und beendete. Flankiert wurde er vom Direktor der Abteilung Sonderaufgaben und dem Pressesprecher der Amsterdamer Polizei. Ergänzt wurden ihre Ausführungen von Spezialisten und Vorgesetzten der beteiligten Dienststellen.
„Was macht Sie so sicher, dass es die Originale waren?“ Ein Journalist stellte die Frage, deren Verneinung wie eine Erlösung für die Welt gewesen wäre.
„Die Gemälde wurden aufgrund des verwendeten Brandbeschleunigers nicht vollständig verbrannt. Von fast allen Bildern blieben unversehrte Ränder unter den Bilderrahmen zurück, die auf ihre Echtheit untersucht werden konnten. Vereinzelt blieben sogar Teile der Bilder übrig.“ Das Foto des Restes eines Sonnenblumenbildes, nur noch der blaue Hintergrund und ein gelbes Blütenblatt war auf fast jeder Ersten Seite der Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine zu sehen.
Ein weiterer Journalist begann nachzufragen: „Ist mit weiteren Gemäldevernichtungen zu rechnen?“
„Uns liegen keine Informationen darüber vor. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden weltweit verschärft. Der Mindeststandard ist jetzt neben unregelmässigen Kontrollen von Wachleuten durch die regionale Polizei auch die Auflage, nur aus industriell verschlossenen Behältern zu essen und zu trinken. Ausserdem wurden nach regionalen Untersuchungen weitere Sicherheitskonzepte erstellt, um unter anderem mehr Wachpersonal einzusetzen und Alarmanlagen zu modernisieren.“ Die Antwort des Staatssekretärs aus dem Innenministerium war lang und erschöpfend.
„Was ist mit dem Täter?“
Längst waren alle Daten über ihn veröffentlicht worden. Endlose Sendungen zu dem Thema zeigten die Interviews von Nachbarn, Freunden (die es nicht mehr sein wollten), Arbeitskollegen.
„Der Täter, Henrik Hasselbach, ist verschwunden. Trotz modernster Fahndungsmethoden ist es uns noch nicht gelungen, ihn aufzuspüren. Das legt nahe...“
Der SK-Leiter wurde in seinen Ausführungen von einem aggressiveren Journalisten unterbrochen: „Haben die Überwachungssysteme und die Polizei versagt?“
„Ein Versagen liegt definitiv nicht vor.“ Die Augen des Leiters der SK Van Gogh ruhten fest und jede Feindlichkeit vermeidend auf dem Journalisten. „Es liegt nahe, dass der Täter tot ist oder sich zumindest an einem unbekannten Ort im Stadtgebiet versteckt hält und Komplizen hat. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er gefunden wird.“
`Bis dahin kaum noch einiges passieren´, dachte sich in der hinteren, rechten Ecke ein stiller Beobachter. Er setzte sich seine bläulich schimmernde Sonnenbrille auf und verließ vorzeitig die Pressekonferenz. Polizeibeamte vor den Monitoren der Überwachungskameras konnten auf seinem Sonderausweis den Namen „Anthony Brown, ESS“ lesen. Seine genaue Identifizierung war nicht möglich, da die Sonnenbrille einen Scann der Augennetzhaut nicht zuließ. Aber das war man bei den Leuten vom Geheimdienst gewohnt. Immer korrekt mit einem dunklen, unauffälligen Anzug bekleidet. Kurze Haare. Sonnenbrille. Klischees.
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