Natürlich ging es ihr auch danach nicht besser. Sie sah in den Spiegel. Ihre Augen waren rot aufgequollen, ihre Haut blass. Ihre nassen Haare standen ihr wild um den Kopf. Ihr war kalt. Die Bilder der letzten Stunden blitzten an ihren Augen vorbei und doch konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. „Duschen“, sagte sie leise zu sich selbst, obwohl sie sich am liebsten noch einmal übergeben hätte. Vielleicht konnte aber das Duschen ihr dabei helfen, zur Ruhe zu kommen. Doch sie bewegte sich keinen Zentimeter auf die Dusche zu. Ihr Blick war wie gefesselt an den Spiegel und an etwas, das davorstand. Sie realisierte erst einige Minuten später, dass es Johns Zahnbürste war, die sie nicht losließ.
„Ich hätte nicht ihm die Schuld dafür geben dürfen, dass du nicht mehr glücklich mit mir bist“, wiederholte Diana Johns Worte. „Verdammt, jetzt bin ich ganz sicher nicht mehr glücklich!“, schrie sie in den Raum hinein. Sie nahm Johns Zahnbürste und warf sie quer durch das Zimmer. „Ich hasse dich!“ Mit der flachen Hand schlug sie gegen das Waschbecken. Dann schaffte sie es, sich davon abzuwenden, ging zur Dusche, schaltete das Wasser ein, zog sich aus und stellte sich darunter. „Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich!“, wiederholte sie für sich. Das Wasser prasselte in ihren Ohren. Es vermischte sich mit ihren Tränen. Kraftlos ließ sie sich zu Boden der Dusche sinken. Sie hasste auch sich selbst. Hätte sie nicht mit Daniel geflirtet, wäre er jetzt noch am Leben.
Sie hatte kein Zeitgefühl mehr, als sie dort saß. Durch die kleinen Spalte in den Rollladen vor dem Badezimmer fiel kein Licht. In diesem Badezimmer hatten sie auch keine Uhr. Als sie schließlich das Wasser abdrehte und aufstand, schmerzten ihre Knie. Nur langsam ging sie zu ihrem Tuch. Sie wickelte sich darin ein und ging dann auf direktem Weg ins Schlafzimmer. Dort sah sie auf ihren Wecker. Es war acht Uhr am Morgen. „Was bezweckst du damit?“, fragte sie laut, als sie in die stürmische Nacht hinausblickte. In der Ferne ertönten die Sirenen eines Kranken- oder Feuerwehrwagens. „Du richtest nur noch mehr Schaden an.“
Sie legte sich ins Bett. Es waren nicht Blitz und Donner, die sie nicht schlafen ließen, es war auch nicht allein die Tatsache, dass sie sich noch in dem Haus befand, in dem Daniel gestorben war. Es war sogar eher die Normalität, die in ihrem Schlafzimmer herrschte, welche sie fast um den Verstand brachte. Alles stand an seinem Platz. Johns Eigentum noch genauso wie ihres. Sie lag in dem Doppelbett, das sie sich geteilt hatten, seitdem sie zusammengezogen waren. Johns Betthälfte war leer und doch spürte sie ihn fast noch neben sich liegen. Sie ekelte sich vor dem Gedanken, dass sein Körper das gleiche Laken und die gleiche Decke berührt hatte, die sie jetzt nutzte, und sie setzte sich wieder auf. „Ich muss umziehen.“
Kurzentschlossen griff sie nach dem Hörer des Festnetztelefons, das neben ihrem Bett stand. Ihr Handy befand sich noch in der Tasche, die sie bereit gemacht hatte, um mit Daniel in die Stadt zu gehen. „Warum wolltest du auch unbedingt hierbleiben?“, fragte sie in die Stille.
Sie tippte die Nummer ihres großen Bruders mit zittrigen Fingern ins Telefon. Es war eine der wenigen Nummern, die sie auswendig kannte. Erst nach dem sechsten Klingeln nahm er ab. „Kresse“, meldete er sich.
„Hallo Tom, hier ist Diana.“
„Diana, wieso rufst du mich mitten in der Nacht an?“ Er klang verschlafen.
„Es ist nach acht.“
Tom gähnte ins Telefon. „Deine Uhr muss falsch gehen, bei uns ist es noch dunkel.“
„Wirklich?“ Tom wohnte dreihundert Kilometer von ihr entfernt. Wie konnte sich das Gewitter bis zu ihm ziehen?
„Ja, wirklich. Und außerdem ist auch acht Uhr morgens für ein Wochenende ganz schön früh.“
„Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.“
„Ja, schon gut. Warum rufst du denn an?“
„Ich habe mich mit John gestritten.“
„Aha.“ Wieder gähnte Tom. „Warum?“
Diana biss sich auf die Unterlippe und versuchte die wiederaufkommenden Tränen zu unterdrücken. „Kann ich für ein paar Tage zu euch kommen?“
„Oh, so schlimm?“ Die Müdigkeit in seiner Stimme wurde durch Mitleid ersetzt.
Obwohl Tom es am anderen Ende der Telefonleitung natürlich nicht sehen konnte, nickte Diana nur.
Als hätte er es wahrgenommen sprach Tom weiter: „Natürlich kannst du zu uns kommen. Janina freut sich immer, dich zu sehen. Und ich ja sowieso.“
„Gut. Ich fahre gleich los, ja?“
„Willst du nicht lieber noch ein paar Stunden warten? Bei uns herrscht gerade anscheinend ein ziemliches Unwetter. Bei dem Sturm ist es bestimmt nicht gerade sicher zu fahren.“
„Keine Sorge, ich passe auf mich auf.“
„Also fährst du später?“
„Ich muss sowieso erst packen. Ich klingele dann, wenn ich da bin.“
„Gut, mein liebes Schwesterleinchen. Und sei nicht so traurig. Es wird bestimmt alles wieder gut.“
Zwei Tage später saß sie zusammen mit Janina am Küchentisch. Im Radio wurde über das Unwetter diskutiert, das über weite Teile Deutschlands wütete und keine Anstalten machte, weiterzuziehen. Stattdessen breitete es sich weiter aus.
„Unglaublich, dass du bei dem Wetter tatsächlich hierher gefahren bist“, sagte Janina nicht zum ersten Mal. „Und dass dir nichts passiert ist.“ Sie zuckte zusammen, als der nächste Donner ertönte, so laut, dass er selbst Janinas erschreckten Schrei zu übertönen vermochte.
Diana selbst zuckte trotz der Lautstärke nicht einmal mit der Wimper. Sie reagierte schon längst nicht mehr auf die Blitzschläge um sie herum. Ruhig trank sie ihren Kaffee. Die Wärme der braunen Flüssigkeit breitete sich wohltuend in ihr aus. „Ich hatte schon immer einen sehr fleißigen Schutzengel“, gab sie kurz angebunden zurück. Sie sah aus dem Fenster in die Dunkelheit. „Und da bin ich wohl nicht die Einzige. Wenn man dem Radio glauben darf, ist ja noch niemandem etwas passiert. Gar nicht mal typisch für so ein Wetter.“ Ebenso war es ungewöhnlich, dass der Empfang des Radios nicht längst abgebrochen war. Sie schaltete es ab.
Janina ging gar nicht darauf ein. „Na, jetzt bleibst du jedenfalls hier, bis dieser Sturm vorbei ist. Man muss sein Glück ja nicht überstrapazieren.“
„Sicher.“ Diana schob die Tasse auf dem Tisch von einer Hand in die andere. „Ich habe es ohnehin nicht eilig, wieder nach Hause zu fahren.“
„Du willst immer noch nicht darüber reden, was zwischen dir und John vorgefallen ist, oder?“, fragte Janina einfühlsam. Ihre großen Augen musterten Diana liebevoll. Diana schüttelte nur den Kopf. Über das zu reden, was vorgefallen war, war das Letzte, was sie wollte. Allein bei dem Gedanken daran drehte sich ihr der Magen um. Erneut sah sie aus dem Fenster in die Dunkelheit. Und atmete tief durch. „Nein.“
Mit dieser Antwort gab sich Janina allerdings nicht zufrieden. Sie beugte sich über den Tisch und berührte vorsichtig Dianas Hand, die die Kaffeetasse umgriff. „Ich will dich wirklich nicht drängen, aber manchmal hilft es, sich die Dinge von der Seele zu reden.“
„Es ist einfach kompliziert.“
Einen Moment wartete Janina darauf, dass Diana weitersprach. Vergeblich. In Dianas Augen war klar, dass es in diesem Fall nichts besser gemacht hätte, mit irgendjemandem zu reden. Im Gegenteil, es hätte alles nur noch schlimmer gemacht.
„Glaubst du denn, dass sich das zwischen euch noch klären lässt?“, hakte Janina weiter nach.
Wieder schüttelte Diana nur den Kopf. Sie blinzelte zweimal, um die Tränen zu unterdrücken, die sich den Weg in ihre Augen bahnten. Nicht, weil sie um John trauerte, sondern weil es ihr immer noch unbegreiflich war, welch abscheuliche Tat er im Stande gewesen war, zu tun.
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