Die nun folgende Zeit war wie ein lebendiger Albtraum für die Königsfamilie, aber vor allem für Farlan, auf dem plötzlich die Hauptlast der Verantwortung lag. Tagsüber war er wie betäubt, es kam ihm vor, als liefe er unter einer dicken Nebelschicht umher. Alles erledigte er wie mechanisch, sah nur wie eine lange Perlenschnur die unmittelbar anstehenden Aufgaben, und ließ sonst niemanden an sich heran. Nachts lag er schlaflos da und sehnte sich nach Lara, aber sie hatte er nicht aufgesucht, obwohl sie sicherlich auf ihn wartete, denn er wusste, wenn er es tat, dann würde er zusammenbrechen. Das wollte er erst tun, wenn...
Stattdessen traf er in einer beängstigenden Geschwindigkeit Anordnungen, wann was zu erledigen war. Eine Aufgabe jedoch, die wollte, die musste er persönlich übernehmen: die Botschaft an ihre Freunde und Verwandten, was geschehen war. Er wollte nicht, dass sie vorher irgendwelche Gerüchte erreichten, und wollte auch vorgeben, was sie offiziell verlautbaren sollten und was nicht. Das war fast mehr, als er ertragen konnte. Wie ein klaffender Abgrund lagen die leeren Pergamente vor ihm und wollten sich nicht füllen lassen.
Als er sich dann doch aufraffte, kam ihm jedes dieser kühlen sachlichen Worte vor wie eine Ohrfeige. ›Es muss der Ehrwürdigen Mutter gelungen sein, dem Angreifer das Messer aus der Hand zu schlagen, sodass Nat es finden, in die Hand nehmen und den Täter aufspüren konnte. Wir haben ihn in der Stadt gestellt, aber bevor wir ihn ergreifen konnten, erfuhr das Volk von seinen Taten, und er wurde von einem wütenden Mob gelyncht. Wahrlich, das Volk hat gesprochen...‹
Ungeduldig knüllte Farlan das Pergament zusammen, warf die Feder fort und rieb sich über das müde Gesicht. Einen solchen Tatsachenbericht, den konnten sie vom Heer bekommen, das wäre ihnen gegenüber abschätzend und beleidigend.
Nein, er wollte schreiben, wie es ihnen wirklich ergangen war, wie sie litten und dass er eine nicht geringe Genugtuung im Augenblick bei der Hinrichtung des Täters empfunden hatte, derer er sich hinterher in Grund und Boden schämte. Aber wie? Ungeduldig wischte er sich über die feuchte Wange. Wie sollte er schreiben über etwas, das er selbst nicht einmal ansatzweise begreifen konnte?
Wie er so da saß und auf das nächste leere Pergament starrte, spürte er plötzlich jemanden hinter sich. Als er sich umwandte, stand da Noemi. Sie hob die Hand, strich ihm sanft über die Wange, eine Geste, bei der er schlucken und die Augen zusammenkneifen musste, denn das hatte seine Mutter auch stets bei ihm getan.
›Ich helfe dir‹, zeigte sie und setzte sich.
Schließlich taten sie es zu fünft, Farlan, seine beiden Großeltern Thorald und Naluri, Noemi und auch Nathan, den sie förmlich dazu befohlen hatten.
»Ich werde meinen Abschied vom Heer nehmen«, sagte Nathan plötzlich und wollte das auch gleich schreiben. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte er kein Wort mehr gesprochen, deshalb waren sie ganz erstaunt, auf einmal seine tiefe Stimme zu hören.
Farlan packte seine Hand und entwand ihm die Feder. »Warum? Du hattest doch recht! Die Männer begegnen dir mit Ehrfurcht seitdem, doch, Nat, ich habe es gesehen! Sie wollten dir nicht glauben, haben hinter deinem Rücken über dich hergezogen, aber du hattest recht, die ganze Zeit. Ich bitte dich, gehe nicht. Vater würde das auch nicht wollen. Das wird er dir auch selber sagen, wenn es ihm besser geht.«
Also blieb er und half, und bald machten sich ganz und gar ungewöhnliche Briefe auf den Weg, Briefe mit fünf unterschiedlichen Handschriften in einem und an etlichen Stellen von Tränen verschmiert, überbracht von Eilboten des Heeres. Selbst in den weit entfernten Osten zu Amaya und in den Westen, nach Nador und Branndar, machten sie sich auf, obwohl es tiefer Winter war. Sie sollten aus erster Hand erfahren, was geschehen war. Nur Altheas Brief, den schrieb Noemi allein, in ihrer Geheimschrift und mit allen Details, und zwar auch solchen, die der Familie nicht bekannt waren. Die Heilerinnen hatten nämlich Dinge an Siri entdeckt, welche so entsetzlich waren, dass sie sie nur Noemi anvertraut hatten. Noemi wusste einfach, dass ihre Herzensfreundin bereits die furchtbare Wahrheit kannte, es sicherlich miterlebt hatte in ihren Träumen, genauso wie Faye. Da brauchte sie mit nichts zurückzuhalten.
Nach der vorgeschriebenen Zeit der Einbalsamierung und Vorbereitung auf die Zeremonie wurde die Königin in einer riesigen Trauerprozession zu Grabe getragen. Vorläufig würde Siri in einem Sarkophag in Phelans Grabhügel bestattet sein, bis sie ihr ein eigenes Grabmahl errichtet hatten, das größer und prächtiger werden würde als alles bisher da Gewesene. So hatte es Farlan verfügt, denn sein Vater, der König, war immer noch nicht aus seinem Dämmerzustand erwacht. Im Gegenteil, es wurde immer schlimmer mit ihm. Irgendwie musste er gemerkt haben, dass Siri für immer fort war, und seitdem tobte er, sobald er auch nur irgendjemanden in seiner Nähe hörte, dass es weit durch den Palast schallte.
Um ihn, die Kinder und die Familie zu schützen, blieb ihnen schließlich nichts anderes übrig, als ihn in einen der Türme zu sperren, in eben jenen Raum, der einst den gefangenen Ragai beherbergt hatte. Er musste mit Gewalt zum Essen und Trinken gezwungen werden, und da er eine Gefahr für sich und andere war, mussten sie ihn in Ketten legen. Bitterkalt war es dort oben, sie stellten im Untergeschoss Wärmeschalen auf, auf dass die warme Luft nach oben steigen konnte und er nicht erfror. Aber es half nicht viel. Binnen kürzester Zeit fiel der einst so prachtvolle Mann in sich zusammen, wurde dünn und schwach. Schließlich wussten sie sich nicht anders zu helfen, als die Schwestern um Hilfe zu bitten. Es war Lara als Freundin der Familie, die ihn fortan versorgte.
Es lief immer gleich ab. Sie gaben ihm sehr wenig zu trinken und hielten ihm morgens eine Schale mit einem Betäubungstrank vor die Nase, der dafür sorgte, dass er beinahe sofort einschlief. Erst dann konnten sie ihn versorgen, waschen, neu einkleiden, das Stroh wechseln.
Obschon sie verhindern wollten, dass der Zustand des Königs öffentlich wurde, wimmelte es in der Stadt nur so vor Gerüchten. Seit Siris Tod lag alles öffentliche Leben brach, aller Handel, alle Geschäfte. Da blieben nur Klatsch und Tratsch übrig, die Menschen beschäftigt zu halten.
Mit regungsloser Miene schritt Farlan dem Trauerzug voran, Shoona an seiner Seite, wie sie dort schon so oft in den letzten Tagen gewesen war. Ganz still hatte sie sich dorthin begeben, und er stützte sich auf sie, nicht auf Naluri, nicht auf Noemi oder gar Siris Zofe Nuria, die selbst noch viel zu sehr in ihrer Trauer gefangen war. Shoona drängte nicht, tat nichts, was er nicht befahl. Sie verstand, dass das Volk diese Geste brauchte, dass es weiterging, dass das Königreich Bestand hatte. Sie wusste, dass sie in ihrer Eigenschaft als künftige Königin vor das Volk trat, und sie machte ihre Sache gut, musste er widerwillig eingestehen. Aber sein Herz, das hatte sie deswegen noch lange nicht.
So regungslos der Thronfolger wirkte, so offen zeigte das Volk seine Trauer. Geschrei und Wehklagen erklang überall in der Stadt, aber besonders auf dem Weg des Trauerzuges. Das war für die Kinder der Familie kaum zu ertragen, sonst ein Musterbeispiel an Disziplin. Sie drängten sich verstört an die Erwachsenen und ihre älteren Geschwister, die selbst Mühe hatten, ihre Fassung zu wahren.
Erst in dieser Nacht suchte er Lara auf und fand sie, wie sie schon all die Nächte auf ihn gewartet hatte. Er hatte sie gesehen, hatte ihre Blicke gespürt, selbst über den weiten Platz vor der großen Halle hinweg, selbst unter dem blauen Vollschleier, der sie genauso aussehen ließ wie alle anderen Schwestern. Er wusste einfach, wo sie in der Menge der blauen Gewänder zu finden war, und er wusste auch, dass er ihr nichts zu erklären brauchte. Jetzt erst konnte er all das herauslassen, was er tagsüber mühsam unterdrückt hatte. Endlich konnte er weinen, schreien, in seinem Zorn auf etwas einschlagen und seine Schuldgefühle zugeben. Hinterher war er wie befreit, und das erste Mal seit Tagen ruhte er völlig entspannt, den Kopf auf Laras Schoß. Was für ein Luxus, jemandem seinen Kummer aufladen zu können, jemandem, der ihn selbstlos annahm und ertrug!, dachte er. Es war ein Luxus, den die anderen nicht besaßen, seine Geschwister nicht, Nathan nicht, sein Vater schon gar nicht.
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