Bei ihrem einzigen Besuch hier hatte er ihr erzählt, dass das Dorf 1887 von einem Erdbeben fast völlig zerstört worden war. Seine Eltern und Geschwister starben an dem Tag. Nur der glückliche Umstand, dass er einige Jahre zuvor in Monaco Arbeit gefunden hatte, rettete ihm das Leben.
Elaine wollte wie damals den Glockenturm der Kirche besichtigen, der auf wundersame Weise das Erdbeben überstanden hatte. Sie atmete schwer, als sie den unebenen Weg hinauf ins Dorfzentrum spazierte. War er seinerzeit auch so steil gewesen?
Ihre Neugier zog sie weiter. In den verwinkelten Gassen entdeckte sie winzige Galerien, überall werkelte man in künstlerischen Ateliers. Die kleinen Vorgärten waren liebevoll mit bunten Blumenkübeln und gemusterten Fliesen verziert. Jemand hatte aus Muscheln und Tonscherben ein Windspiel gebastelt, das leise klimperte. Hinter einem Efeu versteckt, spürte Elaine eine Madonna auf, was sie als positives Zeichen deutete. Und über allem schwebte etwas Geheimnisvolles. Lag es an den wild bewachsenen Ruinen, deren Steine Geschichten zu flüstern schienen, oder an den Nebelschwaden, die sich noch nicht über den Berghängen gelüftet hatten?
Als sie schnaufend um eine Hausecke bog, funkelten sie plötzlich grüne Augen an. Eine dicke Katze verteidigte ihr Revier. Elaine blieb lächelnd stehen, woraufhin die Katze sich sogleich wohlig auf der Fensterbank ausstreckte. Genau wie damals und doch anders.
Dann hörte sie ein altes französisches Chanson, das sie liebte. Sie folgte der Melodie, stieg vorsichtig die schiefe Treppe eines halb verfallenen Hauses hinauf, vor dem ein handbemaltes Schild „Galerie offen“ baumelte, und betrat einen unerwartet großen, von Tageslicht durchfluteten Raum. Ein wundervoller Platz zum Malen, dachte sie und sang leise den Refrain mit: »Et si tu n’existais pas dis-moi pourquoi j’existerais ...«
»Singen Sie ruhig ein bisschen lauter, Ihre Stimme klingt entzückend«, begrüßte sie der Maler und schaute lächelnd hinter seiner Staffelei hervor. Er lud Elaine ein, sich umzuschauen und verzog sich wieder hinter seine Leinwand.
Elaine, die die großen Kunstgalerien der Welt besucht hatte, fühlte sich in dem chaotischen Mix verschiedenster Kunstrichtungen zunächst verloren. Trotzdem betrachtete sie die Bilder und summte die französischen Oldies mit, bis der Maler zu ihr trat, sich die Hände an einem Tuch abwischte und über die Geschichten hinter seinen Bildern zu sprechen begann.
Elaines Blick blieb an einem kleinen Ölgemälde hängen, das Umrisse von Menschen zeigte. Ganz in Beige gemalt, lagen, standen oder hingen sie kreuz und quer übereinander. Jeder für sich allein und dennoch miteinander verbunden, weil sie sich berührten und so ein Ganzes bildeten. Wie im wahren Leben, dachte Elaine. Nur eine einzige Figur am rechten Rand hob sich ab. Sie war in Blau gehalten. Ihrer Lieblingsfarbe.
Vor wenigen Wochen noch hätte sie dieses Bild wahrscheinlich kitschig gefunden. Heute kaufte sie aus der Laune heraus und akzeptierte den Preis sofort. Es kostete ohnehin nur wenige Hundert Euro.
Dann gestand Elaine dem Maler, dass die Familie ihres Großvaters vor dem Erdbeben hier gelebt hatte und sie als kleines Mädchen Ende der Vierzigerjahre das damalige Geisterdorf besucht habe.
Der Maler, der seit fünfundzwanzig Jahren hier wohnte, erzählte, wie sich in den Sechzigern Hippies in dem verfallenen Teil des Dorfs niedergelassen hatten. »Können Sie glauben, dass die romantische Idee vom einsamen Bergdorf, in dem man friedlich, von der Natur inspiriert und in Harmonie mit der Welt seinen künstlerischen Talenten nachgehen konnte, dem Ort eine Wiedergeburt bescherte?«
»Das kann ich mir sogar gut vorstellen. Die Flower-Power-Zeit folgte eigenen Gesetzen. Wer kam zuerst?«
»Maler und Bildhauer. Das hat sich in der Szene herumgesprochen, und Musiker, Schriftsteller und Aussteiger gesellten sich zu ihnen.« Er rollte listig mit den Augen.
»Wie spannend«, bemerkte Elaine. »Auf meinem Weg sind mir die einfachen, aber liebevoll hergerichteten Häuser aufgefallen. Ich möchte noch den Glockenturm besichtigen.«
»Und die meisten haben ihre Häuser fast nur mit ihren Händen und viel Fantasie geschaffen. Naja, manchmal geht’s hier schon chaotisch zu, aber irgendwie funktioniert es, und das bei sechzig Nationalitäten!«
Elaine lächelte. »Unglaublich. Man spürt die spezielle Energie, wenn man mit Muße durch die Gassen geht. Ein Dorf wie nicht von dieser Welt.«
»Das trifft es«, sagte der Maler und verschränkte lässig die Arme vor der Brust. »Deswegen besuchen uns täglich andere Menschen, die fasziniert sind, so wie Sie.«
Jetzt hielt Elaine sein Bild an verschiedene Stellen im Büro und überlegte, wo sie es aufhängen sollte. Das Gespräch in Bussana Vecchia, das sie liebevoll Hippie-Dorf getauft hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf.
Ein bisschen von der Leichtigkeit des Seins des Malers dort würde mir auch guttun, dachte sie. Er lebte so einfach, schien aber glücklich. Warum belaste ich mich mit Dingen, die inzwischen ihren Wert verloren haben?
Elaine legte das Bild zurück auf den Schreibtisch und setzte sich. Sie dachte an Jacques Verrier und wie traurig er sich beim letzten Treffen verabschiedet hatte. Sollte sie ihn anrufen? War es nicht an der Zeit, für die letzten Monate einen Plan zu schmieden und das Leben noch ein bisschen zu genießen, bevor es ihr entglitt?
Elaine wollte gerade das Büro verlassen und für eine halbe Stunde mit ihrem Hund Belle Gassi gehen, als das Telefon klingelte. Ihr Terminplan an diesem Nachmittag war eng. Sie zögerte, nahm dann doch ab.
»Guten Tag, Madame Volante, Cedric Dardenne.«
Es dauerte eine Sekunde, ehe sie sich an ein Gesicht zu dem Namen erinnerte. Cedric Dardenne war ein Schulfreund ihres Sohnes, den er vor Jahren als Ingenieur eingestellt hatte. Inzwischen war Cedric zu seiner rechten Hand im Geschäft aufgestiegen. Seit Alessandros Unfall leitete er die Firma, und Elaine schätzte den zuverlässigen Monegassen.
»Hallo Cedric, wie geht es dir?«
»Gut, danke.« Er entschuldigte sich für die Störung und bat Elaine um ein kurzfristiges Treffen. Es ginge um die Firma und wäre wichtig.
Das durchkreuzte Elaines Plan, trotzdem fragte sie Cedric, wann er im Büro sein könnte.
»Ich stehe vor dem Gebäude.«
»Dann komm rauf, ich gebe der Sekretärin Bescheid.«
Fünf Minuten später saßen sich beide gegenüber.
»Geht es Alessandro besser? Ich würde ihn gern besuchen.«
»Ich schätze deine Anteilnahme, aber mein Sohn möchte in seinem Zustand nicht besucht werden. Es geht ihm aber besser, und die Ärzte sind zuversichtlich, dass er vollständig genesen wird. Vielleicht in ein paar Wochen?«
»Okay. Endlich mal eine gute Nachricht«, sagte Cedric erleichtert und erkundigte sich, wann Alessandro vorraussichtlich ins Geschäft zurückkommen würde.
»In diesem Jahr wohl nicht mehr.«
»Wir haben erst Ende Februar.« Sein Lächeln fror ein.
»Jetzt schau doch nicht so betrübt. Ich hoffe auch, dass Alessandro schneller Fortschritte macht, aber bis er wieder der Alte sein wird, seine Firma führen und um die Welt fliegen kann, vergehen mit Sicherheit noch Monate. Was gibt es für Probleme?«
Cedric nestelte verlegen an seinem Hemdkragen, als er gestand, die Gehälter der Angestellten nur noch bis Juni bezahlen zu können.
»Wie bitte? Hatte Alessandro die Finanzierung nicht für mindestens ein Jahr gesichert?«
»Das war vor dem Unfall. Sein Partner aus Hollywood hatte 50 Millionen Dollar zugesagt, aber leider bisher nur 25 bezahlt. Er möchte jetzt eine Garantie, dass die Firma weiterläuft, und zwar mit Alessandro.«
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