Alessandro schwieg.
Es überraschte Elaine, dass sie plötzlich trotz des Rauschens vorbeifahrender Autos und der Sirene eines Notfallwagens kleine Meisen aufgeregt im Orangenbaum zwitschern hörte. War es eine Schutzfunktion des Gehirns, die Aufmerksamkeit auf entzückende Kleinigkeiten zu lenken, wenn man Angst vor entscheidenden Dingen hatte?
»Was willst du tun?«, fragte Alessandro schließlich beschämt.
»Deinen Anteil begleichen, aber vorher möchte ich Einblick in die Bücher.« Mit dieser Notlüge gab Elaine Cedric Rückendeckung und ihrem Sohn das Gefühl zu entscheiden.
»Und Claudia?«
»Sie braucht kein Geld, und Marek bekommt keinen Cent von mir.«
»Habt ihr wieder gestritten?«
»Sie versteht es einfach nicht«, wiegelte Elaine ab.
»Mama, wir sind alt genug. Misch …«
»75 Millionen ohne Kontrolle? Hast du den Maßstab verloren?«, unterbrach sie ihn. Ihre Nerven lagen bloß.
»Du verstehst nichts von innovativer Technologie.« Obwohl Alessandro widersprach, klang seine Stimme versöhnlicher.
»Dafür von Finanzen und Psychologie. Probleme lösen sich nicht von allein.« Elaine sah, wie Alessandros Finger sich um die Lehne des Rollstuhls krampften.
»Psychologie? Mama, ist dir klar, dass ich daran zweifle, ob meine Zukunft überhaupt lebenswert ist?«, fragte er kaum vernehmbar und schaute in den Himmel, als fände er dort eine Antwort.
Seine Worte ließen Elaine frösteln. Alles, was sie gerade unternahm, tat sie nur für die Zukunft ihres Sohnes und seiner Kinder. Seine gesundheitlichen Probleme würden sich lösen, und den Rest arrangierte sie gerade.
»Ich schäme mich. Lallend im Rollstuhl mit siebenundvierzig …«
Das war sein Hauptproblem? Lächerliche Eitelkeiten, einige Wochen nicht ohne Hilfe aufstehen zu können, von einer Krankenschwester gewaschen zu werden oder Bewegungsabläufe mit einem Trainer üben zu müssen.
»Krüppel für den Rest meines Lebens? Niemals!« Alessandro keuchte.
Sollte sie ihm sagen, dass er sich glücklich schätzen konnte, einen ›Rest des Lebens‹ vor sich zu haben? Elaine stand auf, stellte sich hinter ihn und massierte leicht seine Schultern, damit er ihre glasigen Augen nicht sehen konnte. »Das sind doch nur einige Monate, die gehen vorbei. Hab ein bisschen Geduld und Vertrauen«, bat sie. Gleichzeitig wischte sie die Sorgen ihres Sohnes pragmatisch in zwei Sätzen weg, denn ihre eigenen Kräfte schwanden drastisch. Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, setze sie sich wieder und kam zu ihrer letzten Frage zurück. »Cedric hat mich gebeten, nach deiner Erlaubnis zu fragen, bevor er die Bilanzen herausgibt.«
Alessandro starrte in die Ferne. »Du hörst mir weder zu, noch lässt du mir eine Chance.«
»Es steht dir frei, meine Hilfe auszuschlagen und vom Krankenhausbett selbst zu verhandeln. Über deine Affären solltest du besser mit deiner Frau reden.«
Kopfschüttelnd schaute er weiter in die Ferne.
»Weißt du, ich war auch mal jung. Und habe einen hohen Preis für ein paar Sekunden Glückseligkeit bezahlt«, lenkte sie ein. »Du hast eine intelligente, attraktive Frau und zwei wundervolle Kinder!«
»Ich liebe Fiona und die Kinder, das ist doch was anderes.«
»Ah, diese ›Männersache‹, genannt casual Sex?«
»Danke, dass du mir zustehst, ein Mann zu sein. Es mindert meine Komplexe.«
Elaine glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. »Komplexe?«
»Deine Übermacht verfolgt mich seit meiner Kindheit.«
Die Verbitterung ihres Sohnes schockierte Elaine. Das Gespräch lief aus dem Ruder. Sie musste sich eingestehen, dass der Zeitdruck wegen der Vatikangeschichte und ihre Krankheit ihrem Nervenkostüm zusetzten. Sie wurde schneller ungeduldig und erwartete Verständnis, ohne zu erklären, warum sie so unter Druck stand. Das konnte nicht funktionieren. Alessandros vergangene Affären und einige Millionen Dollar waren den Preis nicht wert, die enge Bindung zu ihm und den Vorsitz im Clan zu riskieren. In absehbarer Zeit würde er sowieso erben …
»Ich bin gekommen, um zu helfen.«
Beide schwiegen einen Moment. Ein älterer Mann schob ein dünnes, sehr blasses Mädchen im Rollstuhl vorbei und grüßte freundlich. Elaine lächelte beide an. Sie waren sich schon öfter in der Lobby des Krankenhauses begegnet.
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht beleidigen«, sagte Alessandro schließlich.
»Entschuldigung angenommen. Solange du nicht auf der Höhe bist, übernehme ich aber deinen Platz. Einer muss ja den Überblick behalten.«
»Okay, dann schau halt in die Bücher«, willigte er ein.
Elaine entging der genervte Ton nicht, trotzdem musste sie noch einen wichtigen Punkt ansprechen. »Wenn wir schon mal über die Zukunft sprechen … Ich möchte meinen Nachlass und die Nachfolge des Clans regeln.«
»Das eilt doch nicht, Mama. Warum bist du so angespannt?«
Elaine presste den Mund zusammen, wobei die Falten auf ihrer Oberlippe tief hervortraten.
»Du siehst müde aus. Geht es dir gut?«, fragte Alessandro nun besorgt und schlug vor, dass sie ihn nur jeden zweiten Tag im Krankenhaus besuchen solle.
»Ich schlafe schlecht, wahrscheinlich hat es mit dem Alter zu tun.« Ein leichter Seufzer entfuhr ihr. »Danke, dass du fragst.«
Alessandro schaute sie skeptisch an. Elaine ignorierte seinen Blick und beteuerte stattdessen, dass er logischerweise ihr Favorit für ihre Nachfolge im Clan sei. »Dafür musst du dich jedoch einige Monate unterordnen. Es gibt eine Menge vorzubereiten.«
»Monate?«
»Hm.«
Elaine sah, wie Alessandro mit widersprüchlichen Gefühlen kämpfte.
»Habe ich mich jemals nicht deinen Anordnungen gefügt?« Er sah seiner Mutter in die Augen und fragte, wer die Alternative in der Nachfolge wäre.
»Marcel hat seinen Sohn Jean-Pierre vorgeschlagen.«
»Der konnte sich doch nicht mal gegen die arrangierte Hochzeit wehren.«
Alessandro sagte daraufhin sofort zu, den Familienvorsitz zu übernehmen, und Elaine quittierte es mit Zufriedenheit. Mit der Aussicht auf Macht ködert man jeden Mann. Ihr Sohn bildete da keine Ausnahme.
»Dann hör jetzt endlich auf, dich hängen zu lassen. Es ist doch nur eine Frage der Zeit, wann du zum Zug kommst. Damit du keinen Angriffspunkt bietest, bleibst du besser hier. Außerdem brauchst du für deine Genesung die therapeutische Betreuung.«
Froh über Alessandros Zusage, die der Schlüssel in ihrem Plan war, wollte Elaine den Bogen nicht überspannen.
14
Unverfrorenheit
Freitag, 28. Februar 2014
Als Isabella Corsini nach ihrer Scheidung eine neue Aufgabe und Einnahmequelle suchte, hatte sie gemeinsam mit ihrer langjährigen Freundin Elaine Volante die Geschäftsidee entwickelt, das private und berufliche Umfeld von Mietern, Mitarbeitern oder Ehegatten diskret zu durchleuchten. Vor dem Zeitalter des Internets war es schwierig gewesen, zeitnah relevante Informationen über fremde Menschen zu erhalten. Inzwischen führte sie ihre kleine Agentur dreißig Jahre. Elaine war durch Tausende Mieter immer noch ihre beste Klientin, obwohl inzwischen auch viele Geschäftsleute und Privatpersonen den diskreten Service der umtriebigen Monegassin nutzen.
Heute Vormittag hatte Isabella Corsini aufgeregt bei Elaine angerufen und die Freundin gedrängt, sie unbedingt noch vor dem Wochenende zu sehen, da sie ihr brisante Informationen über Sergej Rubatschov übergeben wollte. Isabella schlug vor, gemeinsam zu Mittag zu essen, aber das passte Elaine nicht. Sie hatte viele Termine und wollte ihre neue Routine beibehalten, jeden Tag eine halbe Stunde spazieren zu gehen. Also verabredeten sich am Hafen in Fontvieille vor dem Michelangelo, um das gemeinsam zu tun.
Der letzte Tag des Februars war zwar sonnig, die Temperatur lag jedoch nur knapp im zweistelligen Bereich. Wenigstens hatte der frische Wind abgenommen. Elaine kam pünktlich, was hieß, etwas früher als vereinbart, und setzte sich auf eine Bank in die Sonne. Sie mochte die dörfliche Atmosphäre im jüngsten Stadtteil des Fürstentums, den viel weniger Touristen besuchten als die Flaniermeile um das Casino. Dafür gab es entlang des Fußwegs lauschige Plätzchen unter Bäumen, kleine Springbrunnen und moderne Skulpturen. Die Yachten im Hafen waren, wie die Wohngebäude, eine Nummer kleiner als auf der anderen Seite des Felsens. Doch das Meer schimmerte genauso blau und das Plätschern der Wellen, die gegen die Boote schlugen, klang sogar eine Nuance lieblicher.
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