Irgendwo, ganz hinten in seinem Kopf passierte dann etwas, was er sich nicht erklären konnte. Nach achtundzwanzig Jahren, in denen er meinte, die Sprache vergessen zu haben, konnte er auf einmal wieder Russisch! Er trat dem Rotarmisten entgegen und begrüßte ihn freundlich in dessen Sprache: „Guten Tag mein Herr. Was kann ich für Sie tun?“ Der war ob diese unerwarteten Empfanges erst einmal verblüfft. Dann fing er sich, drückte meinem Vater auf jede Backe einen Kuss und sagte: „Genosse, wir haben gesiegt. Der Krieg ist vorbei!“ Er schob Vater beiseite, drängte ins Haus, setzte sich an unsern Esstisch und verlangte, dass die ganze Familie sich um ihn versammelte. Wir kamen zögernd und ängstlich aus unserm Keller: Tante Lotte, Anneliese, ich, zum Schluss die alte Mutter.
Kapustin, so oder so ähnlich hieß unser merkwürdiger Gast, holte eine Flasche Schnaps, den er irgendwo erbeutet hatte, aus der einen Hosentasche und eine Handvoll Zwiebeln aus der andern. Tante Lotte musste Gläser bringen. Die wurden randvoll gemacht und wir mussten alle anstoßen auf den sowjetischen Sieg, auf die glorreiche Sowjetunion, auf das Ende des Krieges. Wir mussten Schnaps trinken und Zwiebeln dazu essen, bis wir nicht mehr konnten.
Es dauerte dann noch ein paar Tage, bis die geschlagenen deutschen Generäle den Waffenstillstand unterzeichneten, aber für uns war der Krieg mit Kapustins Besuch zu Ende. Unser Vater hatte dafür gesorgt, dass wir das Kriegsende gesund und vorerst ohne Schaden überstanden.
Kapustin ist noch mehrmals wiedergekommen, obwohl es den russischen Soldaten streng verboten war, mit Deutschen zu verkehren. Wahrscheinlich hat es ihm bei uns gefallen. Von ihm haben wohl auch die Männer in der Militärverwaltung erfahren, dass es einen Deutschen gibt, der Russisch spricht. Eines Tages erschienen zwei schwer bewaffnete Uniformierte und holten unsern Vater ohne Angabe von Gründen zur Kommandantura , wo man ihm eröffnete, dass er russischen Offizieren Deutschunterricht erteilen sollte, was er natürlich bereitwillig tat. Anfangs brachte er als Entgelt dunkle Brotlaibe und Kochgeschirre voll fettiger Suppe mit heim, beides war hochwillkommen. Später gab es Geld aber auch Zigaretten und Alkohol, die gegen Butter und Mehl eingetauscht wurden.
Mit diesen Unterrichtsstunden, zu denen später auch Russischkurse für Deutsche kamen, hat Vater unsere ganze Familie vier Jahre lang bis zum Sommer 1949 ernährt. Kapustin sei Dank!
Warum den Russen immer die Radios kaputt gingen 1946 bis 1949
Die Jahre 1946 und 1947 waren, was die Ernährung betraf, besonders schlimm. Es gab natürlich Lebensmittel, es gab Brot, Butter, Mehl und Kartoffeln, aber eben nicht genug. Uns Sechzehn- und Siebzehnjährigen knurrte da schon gewaltig der Magen. Wir waren darauf angewiesen, mit allen möglichen Tricks an zusätzliche Nahrungsmittel zu kommen. Unsere Besatzer, die Rotarmisten, die sich inzwischen mit ihren Familien in den schönsten Wohngegenden Finsterwaldes niedergelassen hatten, hatten genug zu essen. Vielleicht konnte man dort etwas holen.
Mit meinem Freund Heinz teilte ich nicht nur die Klasse, sondern auch die Leidenschaft fürs Radiobasteln. Wir saßen oft bis spät in der Nacht zusammen und besprachen unsere einschlägigen Erfahrungen. Ganz in Heinz' Nachbarschaft war eine Russensiedlung und Heinz kannte eine Nachbarin, die bei den Russen putzte. Ein sehr begehrter Job, denn die Putzfrauen wurden mit Naturalien bezahlt, mit Fleisch und Brot und Suppe und manche dieser tapferen Frauen haben damit ihre ganze Familie ernährt. Die Nachbarin hatte Heinz einmal beiläufig erzählt, dass bei einer ihrer Russenfamilien das Rundfunkgerät nicht mehr richtig funktionierte und dass die Leute dringend jemand suchten, der es ihnen repariert.
Das kam uns wie gerufen. Wir wurden von der Nachbarin als Experten eingeführt, machten uns mit Schraubenzieher, Zange und Lötkolben ans Werk und nach zehn Minuten machte der Kasten wieder Musik und wir wurden fürstlich mit je einem Laib Brot und einer Portion Mehl entlohnt. Unsere Heldentat sprach sich schnell herum. In der Russensiedlung gab es viele Radios, die übrigens Tag und Nacht liefen. Wenn so ein Ding seinen Dienst versagte, konnten wir gelegentlich tatsächlich helfen.
Aber das war uns nicht genug. Wir kamen auf die Idee, die Heizspannung der Radioröhren in den von uns reparierten Radios ein wenig heraufzusetzen. Sie funktionierten auch so, aber die Glühfäden verbrauchten sich schneller und waren nach spätestens vier Wochen Dauerbetrieb ausgebrannt. Wir wurden wieder gerufen und bauten mit großem Bedauern eine neue Röhre aus beiseite geschafften Wehrmachtbeständen ein, die wir wieder ein bisschen zu stark heizten. Wir kassierten unsere Fressalien und standen prompt nach einem Monat wieder auf der Matte. Heinz erinnerte sich, dass wir den gleichen Effekt durch liederliches Verlöten einer zu kurz geratenen Leitung zur Lautsprecherspule erzielen könnten. Bei starken Schwingungen der Lautsprechermembrane, also wenn das Radio sehr laut eingestellt wurde, riss die Verbindung und eine neue Reparatur war fällig.
Natürlich ging das nicht lange gut. Irgendwann merkten die Leute, dass es mit unseren Reparaturkünsten nicht weit her sein konnte und die Nachfrage ließ nach. Aber eine Weile konnten wir uns so auf Kosten der sowjetischen Besatzungsmacht richtig satt essen. Womit bewiesen ist, dass gewisse technische Kenntnisse mitunter von nahrhaftem Nutzen sein können.
Heinz, der jahrelang auf dem Gebiet der Hochenergiephysik als Forscher und Hochschullehrer tätig war, repariert mehr als fünfzig Jahre nach diesen Ereignissen noch heute seinen defekten Fernseher selbst. Jetzt sorgt er natürlich dafür, dass der nicht mehr seinen Geist aufgibt.
Etwas trieb mich im Frühjahr 1949 an, ohne Not und wenige Wochen vor dem Abitur, eine kleine Goethe-Biografie zu schreiben. Es gab kompetentere Leute, die das schon getan hatten. Aber wir waren im Goethejahr und mir machte es Spaß, den Spuren nachzugehen, die das Erlebte im Schaffen des Geburtstagskindes hinterlassen hatten (J.W. Goethe war 1749 geboren). Immerhin gefiel die Geschichte meinem Vater so gut, dass er die mehr als 60 eng beschriebenen Seiten mit einer geliehenen Uralt-Schreibmaschine abtippte, um sie les- und haltbarer zu machen. Als ich dann den sauber geschriebenen Text an einem unserer literarischen Diskussionsnachmittage in der Wohnung unserer Deutschlehrerin Frau Hurm voller Stolz der versammelten Runde präsentieren wollte, nahm mir Herr Hurm, unser kommunistischer Mentor für Philosophie, Politik und Literaturgeschichte, den Text sofort aus der Hand und begann darin zu lesen. Wobei er sich durch unsere Gespräche nicht stören ließ und nur ab und zu den Kopf schüttelte.
Bei unserem nächsten Treffen sah ich meine Arbeit wieder, voll geschmiert mit Unterstreichungen und Randbemerkungen. Hurms Kritik war nicht sehr schmeichelhaft. Es handele sich hier um eine Sammlung von zusammengesammelten Zitaten ohne erkennbare Aussage. Nichts darin sei eigentlich neu, außer vielleicht ein paar originellen Formulierungen. Zudem fehlten Quellenangaben. Ich war tief getroffen und dachte an die Nächte, die ich grübelnd und schreibend mit meinem Goethe verbracht hatte. Heute muss ich beim Durchlesen dieses gelegentlich etwas schwülstig geratenen Opus sagen, dass er mit seinem Urteil wohl nicht ganz falsch lag. Frau Hurm gab mir das Manuskript zurück: „Ein schönes Stück Arbeit hast du da geleistet. Und grüß' mir deinen Vater!“
Daheim hab ich all die Striche und giftigen Bemerkungen, die ihr Mann in meinen Text gemalt hatte, sorgfältig rausradiert, Spuren sieht man allerdings heute noch. Wer wollte oder konnte angesichts der Berge von Sekundärliteratur schon etwas Neues über Goethe sagen! Von geschickter Hand war bei uns Interesse geweckt worden, und ich wollte als neunzehnjähriger Schüler ein wenig Klarheit darüber erhalten, was die an uns praktizierten politischen und weltanschaulichen Bildungsversuche mit idealistischen und materialistischen Goethe-Interpretationen bewirkt hatten.
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