Als Isabella und Luca im Kindergarten waren, boten mir Rainer und Silke eine Dreiviertel-Stelle als Projektleiterin an. Ich konnte mein Glück nicht fassen und fiel Silke um den Hals. Ich war so begeistert, dass ich am liebsten sofort zugesagt hätte. Das Problem war, dass meine Kinder im öffentlichen Kindergarten keinen Mittagessenplatz bekommen hatten, da ich nicht voll berufstätig war — aber das hatte sich ja nun geändert. Meine Zeit war gekommen und es wäre ja gelacht, wenn es an zwei Mittagessenplätzen für die Kinder scheitern sollte — dachte ich. Sofort rief ich im Kindergarten an, um zwei Plätze für Isabella und Luca zu reservieren. Meine Kollegin Rita, eine alleinerziehende Mutter, die mir gegenübersaß, lachte mich für diesen Anruf noch Monate später aus. Ich hätte geklungen, als wollte ich ein Hotelzimmer buchen, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, zwei Mittagessenplätze im Kindergarten zu buchen. Sie hatte den Antrag für den Ganztageskindergartenplatz für ihren Sohn kurz nach seiner Geburt gestellt. Die ernüchternde Antwort des Kindergartens auf meine 'Buchung' war, dass die Wartezeit für zwei Mittagessenplätze sich auf mindestens ein Jahr belief. Ich war verzweifelt und den Tränen nahe. Silke tröstete mich und kam auf die Idee, es mit einem privaten Ganztageskindergarten zu versuchen, sie wäre bereit einen Teil der Kosten zu übernehmen. Victor wollte ich nicht belasten und erzählte ihm vorerst nichts von meinen Plänen. Ich hatte großes Glück — eine Familie mit zwei Kindern zog gerade um und zwei Plätze in einem privaten Kindergarten wurden kurzfristig frei. Die Kindergartenplätze waren zwar um ein Vielfaches teurer, als im öffentlichen Kindergarten, und ein Großteil meines Gehalts würde dafür draufgehen, aber das war mir egal. Ich wollte diese Stelle unbedingt! Als ich binnen zwei Wochen die Kinder im alten Kindergarten abgemeldet, im neuen angemeldet und meinen Arbeitsvertrag unterschrieben hatte, wollte ich das alles mit Victor feiern. Ich rief ihn in der Kanzlei an und bat ihn abends mit mir essen zu gehen. Ich war ganz aufgeregt und konnte es kaum abwarten Victor alles zu erzählen, was ich auf die Beine gestellt hatte. Ich wünschte mir, dass er stolz auf mich wäre. Seine Reaktion glich jedoch einem Faustschlag in die Magengrube: Er fühlte sich hintergangen. Es seien auch seine Kinder und er habe ein Wörtchen mitzureden. Ich hätte mich damals für die Kinder entschieden, warum ich mich jetzt nicht um sie kümmern wollte ... was, wenn die Kinder krank werden ... wenn sie sich im neuen Kindergarten nicht wohlfühlen ... das Mittagessen ihnen nicht bekommt ... sie ihre Mutter vermissen ... Kinder brauchen geordnete Verhältnisse ... Ich spürte, wie ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, stand auf und ging auf die Toilette. Was erwartete er von mir? Immer wieder hörte ich zwischen den Zeilen Vorwürfe, dass ich mich damals für die Kinder entschieden hätte. Die ersten Jahre waren wirklich nicht einfach, aber wir haben doch das Beste daraus gemacht. Das Schlimmste hatten wir doch hinter uns, warum sollte ich jetzt nicht arbeiten? Das war doch meine Chance! Für ihn änderte sich doch nichts! Ich trocknete meine Tränen und ging zurück an den Tisch. Victor änderte nun seine Taktik: "Schau mal Ana, ich verdiene genug, warum willst du dich diesem Stress aussetzen? Es ist nicht so, dass ich dich nicht unterstützen möchte, aber du siehst doch selbst, dass ich rund um die Uhr arbeite, das tue ich doch alles für uns. Schau mal, wie sich unser Leben verändert hat, was wir uns jetzt alles leisten können ... Du kannst ja ein paar Stunden arbeiten — wenn es dir so viel Spaß macht — wenn deine Mutter dir die Kinder abnimmt, aber eine Verpflichtung mit einem festen Arbeitsvertrag, zwei Kindern und dem Haushalt ... das wird dir bestimmt alles zu viel ... Ich brauche einen freien Kopf im Job, den habe ich nur, wenn zu Hause alles klar läuft ... " Er hatte mir eine klare Rolle zugeteilt und diese Rolle passte mir gar nicht. Ich hatte meine Entscheidung getroffen und dabei blieb es, ob es ihm passte oder nicht!
Ich bin gespannt, wie das heutige Gespräch laufen wird. Victor parkt seinen Wagen immer am Flughafen, sodass ich ihn nicht abholen muss. Ich habe für 20:30 Uhr einen Tisch in einem neuen In-Lokal reserviert und wir werden uns dort treffen. Ich nehme ein Taxi, um von dort mit Victor gemeinsam nach Hause fahren zu können. Während ich auf Victor warte, bestelle ich mir schon mal ein Glas Champagner. Zehn Minuten später kommt er. Ich schaue ihn an: Er sieht müde aus. Dennoch hat er eine unglaubliche Präsenz. Er lächelt, als er mich ansieht und ich spüre, dass ich ihn liebe. Im gleichen Moment wird mir bewusst, wie sehr meine berufliche Krise auch an unserer Beziehung genagt hatte. Ich empfinde eine lange vermisste Leichtigkeit. Eine Last ist von meinen Schultern gefallen, seit ich die gute Nachricht erhalten habe. Ich küsse Victor auf den Mund und muss wohl über das ganze Gesicht strahlen. "Gibt es etwas zu feiern?", fragt er mich. Ich erzähle ihm die ganze Geschichte, unterbreche nur, um mit ihm das Essen auszuwählen und die Bestellung aufzugeben. Am Ende hole ich tief Luft und sage ihm, dass dieser Auftrag auch bedeutet, dass ich sechs Wochen in Dubrovnik das Projekt leiten werde. Victor nimmt meine Hand, lächelt und sagt: "Du Sturkopf, du hast doch längst alles entschieden, wie immer. Du informierst mich doch nur darüber." Seine Worte treffen mich. Er hat recht, ich stellte ihn vor vollendete Tatsachen. — Und das nicht zum ersten Mal. "Ana, ich freue mich für dich und ich bin auch stolz auf dich. Komm, lass uns anstoßen, meine Kämpferin." Ich bin so glücklich, wie schon lange nicht mehr. Wie viele Jahre habe ich mir etwas Anerkennung von Victor gewünscht? Nach zwanzig Jahren sagt er mir endlich, dass er stolz auf mich ist. Ob er etwas von Darko ahnt? Habe ich mich verändert? Ich bin verunsichert. "Ist das wirklich in Ordnung für dich, wenn ich dich so lange alleine lasse?", frage ich ihn. "Ana, du bist es, die fast immer alleine ist, weil ich nicht da bin. Aber zumindest zwei Wochenenden solltest du schon nach Hause fliegen, das ist doch wohl drin, oder?" — "Klar, ist das drin!" Wir trinken eine gute Flasche Rotwein zum Essen und machen uns auf den Heimweg.
23.59 Uhr: Darko hat sich nicht gemeldet. 'Bockt ihn alles gar nicht', wie mein Sohn sagen würde. Aber es interessiert mich auch gar nicht mehr. Ich hatte endlich mal einen wundervollen Abend mit Victor und mir war klar geworden, wohin ich gehöre. Basta mit dieser Spielerei mit Darko! Dennoch muss ich vorsichtig sein, denn schließlich werde ich sechs Wochen in Dubrovnik verbringen — da kann man sich nicht so gut aus dem Weg gehen ...
Donnerstag, 14. Juni
Mail 15:48, Darko schreibt
Gratuliere! Ich freu mich sehr. Aber ich habe dich nicht so richtig verstanden. Was genau machst du in Dubrovnik ? Auf jeden Fall hört es sich nach einem großen Karriereschritt an, oder? Was mach ich dann mit einer so berühmten und erfolgreichen Frau? Für mich wirst du immer die Ana sein, die ich kenne, meine Brusketina.
Du brauchst das Meer und etwas Ruhe wirst du hier mit Sicherheit auch finden.
Ich weiß, ich müsste mich freuen, aber du fehlst mir jetzt schon so sehr und es ist noch so lang bis November! Ich hoffe dieser Sommer vergeht wie im Flug oder vielleicht kannst du ja vorher auf einen Sprung, nach Dubrovnik kommen. Ich habe solche Sehnsucht nach dir. Wenn du doch nur nicht so weit weg wärst. Aber da kann man wohl nichts machen, im Leben kommt es, wie es kommt. Ana, in jeder freien Minute denke ich nur an dich. Ich weiß nicht, was mit mir geschieht, ich fühle mich zurückversetzt in meine Jugend. Ich finde keine Antwort auf meine Fragen, aber was soll's, ich lasse meinen Gedanken einfach freien Lauf, ist vielleicht das Beste. Ich denke unentwegt an dich.
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