Ich liebe Isabella und Luca über alles, sie sind mein Leben und ich wollte ihnen immer eine gute Mutter sein. Aber ich wollte auch meinen Beruf ausüben, meine Agentur aufbauen, mein eigenes Geld verdienen. Ich wollte beides! Mein schlechtes Gewissen war in all den Jahren mein engster Begleiter. Nie hatte ich das Gefühl, allen Anforderungen gerecht zu werden. War ich mit Luca auf den Fußballplätzen, um ihn bei seinen Spielen anzufeuern, oder bei Isabellas Ballettaufführungen, hatte ich immer das Gefühl die Arbeit zu vernachlässigen. Auf meinen Geschäftsreisen und Veranstaltungen, die häufig abends und an den Wochenenden stattfanden, vermisste ich die Kinder und machte mir Vorwürfe, zu wenig Zeit mit ihnen zu verbringen. Immer war ich zerrissen. Aber letztendlich ist trotz der vielen Arbeit aus meinen Kindern etwas geworden. Ich bin stolz auf sie. Beide haben ihr Abitur gemacht und studieren jetzt in London. Diese erste Etappe ist geschafft und eigentlich wäre ich jetzt endlich mal dran! Ich habe davon geträumt beruflich noch mal richtig durchzustarten, mich auf meine Eventagentur zu konzentrieren, neue Kunden zu gewinnen, zu expandieren — all das nachzuholen, was ich jahrelang hinten angestellt hatte. Bis jetzt ging es beruflich immer nur bergauf — langsam, aber stetig. Und ausgerechnet jetzt erlebe ich meine erste große berufliche Krise! Das ist nicht fair!
Eigentlich weiß ich noch nicht einmal genau, wie und wo man neue Kunden gewinnt — bisher habe ich meine Aufträge über Empfehlungen bekommen, aber jetzt brennt es und ich muss handeln! Ich habe sogar zum ersten Mal an einer Ausschreibung teilgenommen. Die Aufgabenstellung beinhaltet die Organisation von Seminaren für das Top-Management im Ausland. In der Testphase sollen sechs Seminare á fünf Tage Dauer realisiert werden. Sollte die Nachfrage hoch sein, könnte das Projekt auch verlängert und ausgebaut werden. Ein lukrativer Auftrag, mit dem ich meine Agentur retten könnte. Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, welcher Ort in Europa für gut verdienende, überarbeitete Manager interessant sein könnte. Die großen Metropolen kennen sie bestimmt und ein ruhiges Nest in den Bergen bietet zu wenig Möglichkeiten für ein abwechslungsreiches Rahmenprogramm. Während ich am Konzept schrieb, hatte ich plötzlich die Idee! Dubrovnik in Kroatien ist ein fantastischer Ort. Wunderschöne Altstadt, direkt am Meer — besser geht's nicht. Das wäre doch mal ein innovativer Ansatz! Ich war plötzlich Feuer und Flamme!
Dubrovnik ... Zehn Jahr war ich nun nicht mehr dort gewesen — seit meine Eltern unser Haus verkauft haben; die Zeit ist verflogen. 1967 sind sie mit meiner älteren Schwester Katarina aus Zagreb nach Deutschland ausgewandert. Papa hatte sich als Kardiologe gut etabliert, und nach zehn Jahren Arbeit in München konnten sie sich endlich den Traum vom eigenen Haus in der Heimat erfüllen. Ich war zwar erst sieben Jahre alt, als meine Eltern das Haus kauften, erinnere mich jedoch genau, wie stolz und glücklich sie waren, sich und ihren drei Kindern ein Haus in ihrer Heimat Jugoslawien ermöglichen zu können. Lange hatten sie überlegt, diskutiert und gestritten, ob sie ein Haus in ihrer Heimatstadt Zagreb oder doch lieber am Meer kaufen sollten. Sie entschieden sich letztendlich für das Meer, für Dubrovnik, 'die Perle der Adria', weil es für uns Kinder schöner war, den Sommer am Meer verbringen zu können. Jedes Jahr fuhren wir zu Ostern und im Sommer mit Papas Mercedes, damals in Jugoslawien das Statussymbol schlechthin, in das Haus meiner Großeltern in Zagreb. Dort blieben wir ein paar Tage und fuhren dann weiter nach Dubrovnik. Meistens kamen meine Großeltern mit und fuhren mit ihrem roten Zastava hinter unserem Mercedes her. Die ganze Familie kam im Sommer nach und nach zu Besuch — die Geschwister meiner Eltern, unsere Cousins und Cousinen ... es war immer viel Trubel. Papa blieb immer drei Wochen und fuhr dann zurück nach Deutschland, weil er arbeiten musste. Wir blieben mit Mama die ganzen Ferien in Dubrovnik und flogen zurück. Es war eine schöne, unbeschwerte Zeit ...
Wahrscheinlich hatte mir mein Unterbewusstsein diesen Geistesblitz geschickt. Wie besessen habe ich zwei Nächte an meiner Präsentation gearbeitet — schon allein die Vorstellung sechs Wochen in Dubrovnik verbringen zu können beflügelte mich. Zufrieden hatte ich die 44 Präsentationsseiten abgeschickt. Ab diesem Moment begann das Elend des Wartens. Das hat ganz schön an meinen Nerven gezerrt. Ich war angespannt und zwischendurch sehr verunsichert. Was, wenn es noch mehr Eventmanager kroatischer Herkunft gab, die sich beworben und die gleiche Idee eingereicht hatten? Das wäre fatal. Oder wenn der Kunde Dubrovnik gar nicht als innovativ empfand? Oder wenn er es immer noch mit dem Balkankrieg in Verbindung brächte? Ich konnte meinen Augen kaum trauen, als ich die Email erhalten hatte, dass ich in die engere Auswahl gekommen sei und mein Konzept am siebten Juni persönlich präsentieren dürfe. Die erste Hürde war geschafft! Spontan hatte ich daraufhin einen Flug nach Dubrovnik gebucht — es war eine gute Idee. Ich habe Hotels besichtigt, mögliche Ziele für das Rahmenprogramm selektiert, ausgeschlafen und bin stundenlang am Strand spazieren gegangen. Von Minute zu Minute habe ich gespürt, wie mein Optimismus zurückkehrte. Kein Wunder — bei strahlend blauem Himmel, kristallklarem Wasser und der malerischen Altstadt-Kulisse fühlte ich mich befreit, als wären meine Sorgen im Meer untergegangen. Genau so sollten sich die Manager, die die Seminare buchen würden, auch fühlen.
Darko ... wir haben uns zufällig am Jachthafen getroffen. Fast wären wir einander vorbei gelaufen, doch dann drehten wir uns beinah zeitgleich um. Langsam haben wir unsere Sonnenbrillen abgenommen und uns ungläubig angesehen. Es verging eine Weile, bis wir uns endlich sehr herzlich begrüßten. Dann sprudelten wir los und stellten durcheinander viele Fragen: Was machst du hier? Warum bist du alleine? Wie geht es deinen Eltern und Geschwistern? Wie läuft es bei dir? Hast du noch deine Weinbar in der Altstadt? Was macht das Weingut? Wie geht es deinen Kindern? — Es war ein schönes Gefühl, Darko zu treffen. Ich fühlte mich sofort in die alten Zeiten unserer unbeschwerten Sommerurlaube zurückversetzt. Erinnerungen kamen hoch ... Er wirkte mit seiner Größe von bestimmt fast eins neunzig und seinem Dreitagebart wie ein Seebär. Auch die ergrauten Schläfen standen ihm gut. Ich hätte noch stundenlang mit ihm weiterreden können, aber er hatte es eilig, bat mich jedoch abends mit ihm essen zu gehen, um unser Gespräch fortzusetzen. Ich freute mich darauf. Warum auch nicht? Darko ist der Sohn eines Freundes meines Vaters und wir kennen uns, wenn auch nur oberflächlich, seit unserer Kindheit.
Der Abend mit ihm hat mir sehr gut getan. Für ein paar Stunden habe ich alle Sorgen vergessen. Wir haben über die alten Zeiten erzählt und über gemeinsame Bekannte. Stipe, unser Nachbar zur Linken, ist vor zwei Jahren verstorben. Ob mein Vater davon weiß? Er mochte ihn sehr gern. Oft saßen sie zusammen auf unserer Terrasse und haben Wein getrunken, den Darkos Großvater gekeltert hatte. Während wir in Deutschland lebten, kümmerte sich Stipe um unser Haus und pflegte den Garten. Maria, Stipes Frau, putzte vor unserer Ankunft das Haus und bezog die Betten. Meistens hatte sie auch Kuchen für uns gebacken oder Marmelade gekocht. Zdenka, unsere ausgesprochen hübsche Nachbarin aus dem gegenüberliegenden Haus, hat mittlerweile drei Söhne. Sie war sehr in meinen kleinen Bruder Marko verliebt. Einen Sommer lang waren sie ein Paar.
Es war ein wundervolles Gefühl in alten Erinnerungen an meine Jugend zu schwelgen, meine Muttersprache zu hören und die einfachen einheimischen Köstlichkeiten wie Miesmuscheln, frittierte Baby-Calamari und gegrillte Sardinen zu essen. Ich hatte Darko als einen netten, aber derben Typen, der nicht mit Kraftausdrücken geizte, in Erinnerung. Umso überraschter war ich, dass er sich beim Abendessen als echter Gentleman erwies. Die Stimmung war herzlich und freundschaftlich, er war sehr fürsorglich und höflich. Gegen ein Uhr begleitete er mich zum Hotel und wir verabredeten uns für den nächsten Nachmittag im Bacchus, denn er wollte mir seine frisch renovierte Weinbar zeigen. Als ich am nächsten Tag ins Bacchus kam, hatte sich die Stimmung verändert, ich spürte so etwas wie ein Knistern ... Darko starrte auf meine Brüste, dann sah er mir so tief in die Augen, als würde er mich gleich küssen — es machte mir Angst. Nein danke, ich bin verheiratet lieber Darko, du bist es auch, ich lebe in Deutschland, habe kein Interesse an einem One-Night-Stand, bin aus dem Alter auch schon lange raus und kann nicht noch mehr Unruhe in meinem Leben gebrauchen!
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