Die Frau suchte mit den Fingern am Hinterkopf nach einer Schlaufe, löste sie und blickte sich angstvoll um. Sie befand sich in einem Zimmer von vielleicht drei Metern Breite, knapp vier Metern Länge und niedriger Höhe. Der Stuhl, auf dem sie saß, stand an einem Holztisch neben einem zweiten Stuhl, an einer Wand war ein Fenster mit Blick auf die nahen Stämme eines dunklen Kiefernwaldes, an einer anderen Wand stand ein einfaches Bett mit einer Wolldecke, daneben war eine weitere Tür, die dritte Wand wurde fast zur Hälfte von einem einfachen alten Bauernschrank verdeckt. Der Fußboden bestand aus alten, etwas ungepflegt wirkenden Holzbohlen, es lag kein Teppich darauf. Von der Decke hing eine schlichte Glaslampe, das Licht kam nicht von einer Glühbirne, sondern von einem kleinen, einem Kolben ähnlichen Gebilde, das leise zischend glühte. Sie hatte so etwas noch nie gesehen.
„Hören Sie mich?“, fragte der Mann. „Möchten Sie erst etwas essen oder sich frisch machen?“
Sie entschied sich fürs Waschen. Er bat um zehn Minuten Geduld, machte im Küchenherd ein Holzfeuer, holte Wasser vom Brunnen, und als es heiß war, füllte er einen Zuber, den er von der Küche in einen schmalen, fensterlosen Nebenraum schob, der vor Zeiten wohl als Speisekammer gedient hatte. Er holte kaltes Wasser vom Brunnen, schüttete es in den Zuber und prüfte die Temperatur der Mischung. Dann entriegelte er an der Seitenwand eine Tür, die zum hinteren Zimmer führte, ging in die Küche zurück und schob dort den Riegel vor. Im vorderen Zimmer öffnete er die Luke und erklärte der Frau, dass im Nebenraum ein Zuber mit warmem Wasser sei.
„Im Schrank finden Sie Waschzeug“, sagte er, „Seife und Handtücher, ebenso frische Wäsche, die Sporttasche bringe ich später. Sie können sich nun wieder in einen halbwegs zivilisierten Zustand versetzen“, sagte er betont freundlich, um sie zu beruhigen. „Lassen Sie die Tür auf, damit Sie Licht haben. Und keine Sorge, ich kann Sie nicht beobachten.“ Er schloss die Luke.
Er hörte, wie die Tür zum Nebenzimmer geöffnet wurde und vernahm bald darauf das Plätschern des Badewassers. Währenddessen bereitete er auf dem Herd eine einfache Mahlzeit zu, Spiegeleier mit Schinken, legte Weißbrot mit Butter und Käse dazu, auch Tomate und Salz. Nach etwa zwanzig Minuten hörte er ihr Rufen, sie sei fertig. Er brachte das Essen auf einem Porzellanteller an die Tür, öffnete die Luke und stellte sich so hin, dass er nicht gesehen werden konnte. Er reichte die Mahlzeit durch die Luke, rief bitte abnehmen , wartete, bis er spürte, dass sein Tablett entgegengenommen wurde, wünschte guten Appetit! und schloss die Luke. Aus dem Nebenraum vernahm er ein zaghaftes Danke . Die erste Stunde im Gefängnis war geschafft.
3
Maria, die treue Seele in Küche und Haushalt, hatte als Erste bemerkt, dass die Tochter des Hauses von ihrem donnerstäglichen Dauerlauf nicht rechtzeitig heimgekommen war. Sonst konnte man die Uhr danach stellen, wenn sie, nachdem sie das Rad an das Garagentor gelehnt hatte, in die Küche kam, um den Rest der Schokolade zu trinken, den sie auf Zimmertemperatur abgekühlt zu sich zu nehmen wünschte, ehe sie sich in ihren Wohnbereich zurückzog, um zu duschen und sich für das nächste Vergnügen anzukleiden.
Nun war sie schon zwei Stunden länger als gewohnt außer Haus, die Zeit für das Mittagessen, zu dem die Hausherrin heute vier Gäste erwartete, nahte. Sie war sich unschlüssig, ob sie ihrer Arbeitgeberin einen Hinweis auf das Ausbleiben der Tochter geben sollte, sie wollte sich einen Rüffel wegen unnötiger Unruhestiftung ersparen. Das Essen war so weit vorbereitet, dass es pünktlich um 13 Uhr serviert werden konnte, heute waren es nur vier Gänge.
Aus dem Küchenfenster blickend sah sie die Hausherrin mit ihren Gästen im Park beim Aperitif sitzen. Eine heitere Gesellschaft, die nicht gestört werden wollte. Die Zofe Jelena, die in Haushaltsführung ausgebildet werden wollte, hatte den Tisch sorgfältig gedeckt, nun trug sie gemeinsam mit Maria die Schüsseln und Schalen ins Esszimmer, es war zwanzig Sekunden vor eins. Pünktlich mit dem Gongschlag verkündete Maria den Herrschaften, es sei angerichtet. Man nahm Platz. Maria servierte, von Jelena unterstützt.
Vor einem Gedeck blieb der Stuhl leer. Im Beisein der Gäste wollte Maria erst recht keinen Hinweis auf das Fehlen der Tochter des Hauses geben. Jetzt musste die Mutter es ja selbst bemerken, aber sie war wohl zu sehr damit beschäftigt, ihre Gäste zu unterhalten. Nach dem Essen wurden Kaffee und Dessert auf der Terrasse serviert, die Hausherrin stellte die von Maria sehnlich erwartete Frage nach dem Verbleib der Tochter immer noch nicht. Als die Gäste sich verabschiedet hatten, zog die Hausherrin sich zur gewohnten Ruhepause in ihre Gemächer zurück. Gegen drei Uhr erschien sie in Reitkleidung in der Küche und erkundigte sich, ob Carolin sich gemeldet hätte. Aus Marias Nein war deutlich Besorgnis, ja Angst herauszuhören.
„Merkwürdig“, sagte die Hausherrin, „sie wollte doch mit mir zum Reiten gehen“. Und dann: „Es gehört sich nicht, die Mutter unentschuldigt warten zu lassen. Schon zu Mittag hat sie mich nicht unterstützt. Ich bin in zwei Stunden zurück. Für den Abend haben zwei Gäste abgesagt, es kommen also nur sieben.“ Und ab rauschte sie.
Die Hausherrin war etwa eine halbe Stunde außer Haus, als das Haupttelefon im Foyer klingelte. Es gehörte nicht zu Marias Pflichten, das Telefon zu bedienen, da aber der Hausverwalter offensichtlich irgendwo unabkömmlich beschäftigt war, nahm sie ab.
Eine gepresst klingende männliche Stimme sagte in ruhigem Ton: „Wir haben Ihre Tochter. Wenn Sie wollen, dass ...“
Maria hatte das Gefühl, in ihrem Herzen würde ein Hammer pochen. Mit sich überschlagender Stimme schrie sie ins Telefon: „Ich bin nicht die Mutter, die ist weg.“
Kurze Funkstille im Telefon, dann: „Sorgen Sie dafür, dass heute um 19 Uhr die Eltern im Haus sind. Ich rufe wieder an. Richten Sie bitte aus, die Tochter sei wohlauf.“ Schluss des Gesprächs.
Maria brach in Tränen aus, laut rufend lief sie durchs Haus auf der Suche nach einem männlichen Beistand, fand Sebastian, den Österreicher, in der Garage und rief „Carolin ist entführt“, ehe sie ohnmächtig zu Boden sank. Sebastian war wie vom Blitz getroffen, er wusste nicht, was zuerst zu tun sei, Maria wiederzubeleben oder die Hausherrin zu benachrichtigen. Er besann sich des erprobten Mittels, Ohnmächtige mit einem Eimer kalten Wassers ins Bewusstsein zurückzuholen, füllte einen Plastikeimer und goss den Inhalt Maria über den Kopf, die sofort wach wurde und zu schreien anfing. Sebastian brüllte „Ruhe!“, holte das Mobiltelefon aus der Hosentasche und wählte die Nummer, die er nur in äußerst dringenden Fällen anrufen durfte. Die Hausherrin meldete sich mit deutlich verärgerter Stimme wegen der Störung, war dann aber doch besänftigt, weil der Anruf wohl unüberhörbar einen berechtigten Anlass hatte und sagte umgehendes Kommen zu. Nur zwölf Minuten später kam sie an.
Maria, die sich einigermaßen wieder gefangen und getrocknet hatte, berichtete der Mutter von dem Telefonanruf.
„Ich muss sofort meinen Mann anrufen“, sagte die Hausherrin und entschwand in die Gemächer ihres Gatten. Sie suchte und fand den Terminkalender, sah, dass ihr Mann zur Stunde in London bei einer Besprechung sein musste, wählte die Nummer seines Mobiltelefons und fing sofort zu rufen an, als sie hörte, dass auf Empfang geschaltet worden war: „Carolin ist...“
Sie wurde unterbrochen: „Guten Tag, Frau Doktor Bendtner, hier spricht Werner Golt, der persönliche Referent Ihres Mannes. Was kann ich für Sie tun?“
„Um Himmels willen, holen Sie meinen Mann ans Telefon.“
„Das geht jetzt leider nicht, er hat mir strengstens...“
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