Er trat vors Haus, sah keinen Menschen auf der Straße oder hinter einem Fenster, ging rasch die zweihundert Meter zum Parkplatz, auf dem mehrere Fahrzeuge standen, stieg in den Kleintransporter, startete und fuhr los. Der mausgraue Wagen war in der Morgendämmerung nur mit Mühe und gutem Auge zu erkennen. Nach einer halben Stunde Fahrt lenkte er den Kleintransporter auf einen Autobahnparkplatz, der durch dichtes Gebüsch in drei Reihen geteilt war. Nur ganz vorn, am nächsten zur Autobahn, parkten an diesem frühen Morgen drei Lastwagen und zwei Pkws. Er fuhr den Wagen zur hintersten Reihe, wo ein Drahtzaun den Zutritt zum Wald verwehrte, blieb einige Minuten ruhig sitzen und beobachtete den Platz zwischen sich und der Autobahn. Es war hell geworden. Nichts bewegte sich, offensichtlich war niemand aus den parkenden Fahrzeugen im Freien zum Pinkeln oder um die Füße zu vertreten.
Er stieg gemächlich aus, als wollte er eine kurze Fahrtpause einlegen, schlenderte zur Hecktür des Wagens, öffnete und holte zwei Kfz-Kennzeichen heraus, deren Buchstaben SRB auf einen Ort weit im Norden Deutschlands hinwiesen. Er presste die mit Klebstreifen versehenen Schilder ohne Hast und mit ständig zum Parkplatz gerichtetem Blick auf die alten Schilder, prüfte ihren festen Sitz und stieg wieder ein. Nach kurzem Warten startete er und verließ den Parkplatz. An der siebten Ausfahrt bog er von der Autobahn ab, fuhr etwa dreißig Kilometer auf einer Bundesstraße, wechselte dann auf eine Kreisstraße und fuhr zügig, aber jede Vorschrift für den Verkehr peinlich genau beachtend, zu einem Waldparkplatz, der von der Straße aus nicht eingesehen werden konnte. Der Weg zum Parkplatz war trocken, der Wagen hinterließ keine erkennbaren Spuren.
Er stieg aus, überprüfte noch einmal das Innere des Wagens, war zufrieden, nahm die Stofftasche vom Sitz, verschloss den Wagen und ging in den Wald hinein. Nach wenigen Minuten verließ er den Weg und ging in weitem Bogen zwischen den Bäumen zum Waldrand zurück, dabei sorgfältig alle Geräusche vermeidend, indem er jedem Zweig auf dem Boden auswich und die Füße hob, um das Rascheln im trockenen Laub zu vermeiden.
Als er die alte Bank am Wegrand wieder sah, machte er sich im Gebüsch, das bis an die Rückseite der Bank reichte, unsichtbar und wartete. Er hatte sich den Lagerplatz schon vor Wochen ausgesucht, hatte dafür gesorgt, dass von dort bis zur Bank keine trockenen Zweige auf dem Boden lagen, die ein verräterisches Knacken verursachen könnten, hatte Laub beiseite geräumt und darauf geachtet, dass kein dorniger Strauch ihn unversehens behindern konnte. Nun machte er es sich im dichten Gebüsch so bequem wie möglich, legte die Flasche mit dem Betäubungsmittel so auf den Boden, dass er sie geräuschlos aufnehmen und öffnen konnte, wenn es soweit war. Dann wartete er.
Nach seinen Vorausplanungen aufgrund wochenlanger Beobachtungen musste die junge Frau in sieben Minuten von ihrem Dauerlauf zurückkommen. Er wusste, dass sie auf genaue, fast rituelle Einhaltung der Förmlichkeiten Wert legte, sie würde pünktlich sein. Er spürte seinen raschen Pulsschlag in den Händen, im Kopf und im Bauch und zwang sich zu ruhigem und tiefem Atmen. Mittlerweile war es warm geworden.
Noch vier Minuten. Aufmerksam blickte er zum Waldrand. In den Wochen der Vorbereitung, in denen er mehrmals mit dem Zug zum vier Kilometer von hier entfernten Bahnhof gefahren war und zu Fuß den Wald durchquert hatte, war nie jemand unverhofft aufgetaucht. Warum sollte ausgerechnet heute ein Mensch auf die Idee kommen, hierher zu fahren oder zu laufen? Aber solche Zufälle gibt es halt. Die Aufregung nahm zu.
Noch zwei Minuten. Bald musste er die Geräusche vernehmen, die beim Dauerlauf auf Waldwegen unvermeidlich entstehen. Er lauschte angestrengt in die Richtung, aus der sein Opfer erscheinen musste. Hoffentlich hatte sie sich nicht ausgerechnet heute den Fuß verstaucht oder war über einen Stein gestolpert und gestürzt. Shit happens . Nur jetzt ruhig bleiben. Es war an der Zeit, die Maske übers Gesicht zu ziehen. Er war der Ansicht, das müsse er aus Rücksicht auf das Opfer tun. Heutzutage weiß jeder, dass ein Entführungsopfer geringe Chancen hat zu überleben, wenn es das Gesicht des Entführers erkennen konnte. Diese Angst sollte das Opfer nicht noch zusätzlich erleiden.
Wie herrlich: Aufwachen ohne Wecker, Aufstehen ohne Eile, der Blick auf die Uhr ohne Bedeutung. Sie schlüpfte in den weißen Morgenmantel aus Kaschmir und Seide, streckte die Arme zur Zimmerdecke, gähnte ausgiebig und genoss das Vergnügen, die Hand nicht vor den Mund nehmen zu müssen.
Sie schob die bodenlangen Gardinen zur Seite und blickte in den Park. Ziemlich weit entfernt entdeckte sie Walter, den Gärtner, der sich an der Hecke zu schaffen machte. Den Pool hatte er schon vom nächtlich fallenden Laub befreit, das blaue Wasser lud zu einem beherzten Sprung ins Kühle ein. Nein, heute nicht, heute war Donnerstag, und der Donnerstag musste immer mit einem Lauf im Wald beginnen.
Wie herrlich: Das Internat in der Schweiz mit dem halbwegs geglückten Abitur lag nun schon viele Wochen hinter ihr, nun lag ein Leben voller Möglichkeiten vor ihr. Noch musste sie sich nicht entscheiden, welches Studienfach sie wählen sollte, das hatte Zeit. Ihr Vater hatte zwar schon sanft gedrängt und zu Jura geraten, aber sie fühlte sich zur Kunst hingezogen. Im Ausland studieren? Wozu denn! In den Ferien war sie schon in Kalifornien gewesen, in Kanada, in Australien und Neuseeland, in London, in Kapstadt. Sie wollte nach Berlin.
Maria, die treue Seele in Küche und Haushalt, hatte, wie an jedem Donnerstag, die Schokolade vorbereitet und unter dicker Haube vor dem Auskühlen bewahrt. Die junge Frau grüßte mit der fürs Personal angemessenen Freundlichkeit, dankte für die Schokolade mit den gleichen Worten wie immer, trank einige Schlucke und verließ den Frühstückssalon, um in den für sie reservierten Teil des Hauses zurückzukehren. Sie zog sich freizeitlässig an und nahm die Sporttasche, die Sebastian, der für Haus und Fuhrpark zuständige Österreicher, ihr wie an jedem Donnerstag mit frischen Sportsachen gepackt hatte. Sie ging zu ihrem elektrobetriebenen Sportrad, das Sebastian bereits aus der Garage geschoben hatte, belud es mit der Tasche, schwang sich in den Sattel und fuhr los in Richtung zum Wald.
Nach 3,74 Kilometern, abzulesen auf dem technisch hochwertigen und vielseitigen Tachometer, band sie das Rad an den Stamm einer Buche am Wegrand und stellte die Tasche auf die nahe Bank. Sie liebte diesen wie eine Skulptur am Wegrand auf sie wartenden ruhenden Pol, der den Anfang und das Ende ihrer Laufstrecke kennzeichnete. Sie streifte ihre bunt gemusterten Leggings ab, unter denen sie eine kurze Sporthose von weltbekannter Marke trug, entledigte sich des Kaschmirpullovers, unter dem ein kurzärmeliges Seidenpolohemd zum Vorschein kam, nahm die sündhaft teuren, ausgiebig gelüfteten und von Sebastian mit Deodorant eingesprühten Sportschuhe aus der weichledernen Tasche, zog die leichten Radfahrerschuhe aus, streifte die Laufschuhe über die nackten, wohlpedikürten Füße, machte einige Übungen, um Gelenke und Sehnen auf das Laufen vorzubereiten, machte noch drei, vier Rumpfbeugen, kreiselte die Arme wie die Flügel einer Windmühle durch die Luft, stellte die Platinuhr am Handgelenk auf null für Zeit und Weglänge und begann ihren Lauf, der an jedem Donnerstag genau fünfzig Minuten dauerte.
Ihre Laufstrecke führte vorbei am Parkplatz für Wanderer, auf dem nie ein Auto stand, führte in den Wald aus Buchen, Eichen, Fichten und Kiefern, die einen schützenden Schattenschirm boten. Der Weg war in der Mitte von einem grün bewachsenen Streifen in zwei Hälften geteilt, es war eine ideale Laufstrecke, die leicht ansteigend immer tiefer in den Wald hineinführte. Nach exakt achtundzwanzig Minuten zeigte ein Summton der Uhr an, dass es Zeit zur Umkehr war. Auf der nun leicht abschüssigen Strecke konnte sie bei zunehmendem Lauftempo in zweiundzwanzig Minuten zur Bank zurückkehren.
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