Sie liebte diesen Wald und die Stille, die vom leisen Rauschen der Blätter und vom Gezwitscher der Vögel wohltuend begleitet wurde. In den Wochen seit ihrer Heimkehr aus der Schweiz war sie hier erst ein einziges Mal einem Menschen begegnet, einem Mann, der, wie es den Anschein hatte, auf Pilzsuche war und keinen Anlass zu Befürchtungen gab.
Auch an diesem Donnerstag war der Wald menschenleer. Sie atmete den würzigen Duft des Waldes, dem schon herbstliche Gerüche beigemischt waren, tief ein. Als sie sich ihrer Bank näherte, beschleunigte sie die Schritte und freute sich auf das zu erwartende Gefühl der wohligen und erholsamen Ruhe. Sie stutzte kurz, als sie den mausgrauen Wagen sah, der vor fünfzig Minuten noch nicht auf dem Parkplatz gestanden hatte, lief dann die wenigen Schritte zur Bank und setzte sich, streckte die langen Beine von sich, legte die Arme auf die Rückenlehne, schloss die Augen und versank in fast meditative Ruhe. Drei Minuten wollte sie sich dem Glücksgefühl der Einheit von Leib und Natur hingeben, ehe sie sich auf den Heimweg machte.
Der Mann im Gebüsch hinter der Bank musste nun zügig handeln, denn er wusste aus Beobachtung, dass die Läuferin nur wenige Minuten auf der Bank sitzen blieb, ehe sie zu ihrem Fahrrad ging. Behutsam schraubte er die Flasche auf, ließ ausreichend Flüssigkeit auf die Watte fließen, erhob sich geräuschlos, machte die wenigen Schritte zur Bank und drückte der Frau die Watte aufs Gesicht. Ein kurzes Aufbäumen, ein erstickter Schrei, ein winselndes Stöhnen, dann saß die Frau ruhig und aufrecht auf der Bank.
Jetzt musste alles schnell gehen. Was zu tun war, hatte er ausreichend oft in Gedanken durchexerziert und gestenreich geprobt. Er zog die Maske vom Gesicht und steckte sie ein, nahm den warmen, etwas verschwitzten Körper, der leichter war, als er geschätzt hatte, auf den Arm und trug ihn mit raschen Schritten zum Wagen. Käme jemand vorbei, er könnte die beiden für ein verliebtes Paar halten. Der Mann spürte den dünn bekleideten Körper auf seinen Armen und bemühte sich, nicht in das überaus schöne Gesicht zu blicken. Es genügte, dass ein leichter, kaum wahrnehmbarer Duft nach Lavendel und Vanille ihn betörte. Er öffnete die Hecktür, stieg ein und legte sein Opfer auf die gepolsterte und zum Bett ausgezogene Bank. Dann ging er zurück zur Bank am Wegrand, sammelte die Watteteile auf, suchte und fand die Flasche, nahm seine Tasche und die der Frau an sich, suchte den Platz nach verräterischen Überbleibseln ab, war zufrieden und ging zurück zum Wagen. Das Fahrrad interessierte ihn nicht, es konnte ihn nicht verraten.
Die Frau lag entspannt auf dem Bett, ruhig und tief atmend. Für einen Augenblick träumte er sich in eine andere Handlung, in der er Ver führer war und nicht Ent führer. Dann besann er sich darauf, was zu tun war, band ein schwarzes Tuch so um den Kopf der Frau, dass die Augen bedeckt waren, klebte ein dehnbares und luftdurchlässiges Band über ihren Mund, befestigte ihren Körper mit textilen Gurten so, dass er nicht abrutschen konnte, band auch die Arme an den Bettrand, prüfte das Lager auf Festigkeit, damit dem Opfer während der bevorstehenden Fahrt bei scharfem Bremsen nichts Vermeidbares geschehen konnte, stieg aus, schloss die Hecktür, ging zur Fahrerkabine, ließ den Blick ein letztes Mal prüfend über die nahe Umgebung schweifen, stieg ein, startete und fuhr los. Das Schwerste, so dachte er, war geschafft. Ein Gefühl von Glück überströmte ihn, während er vom Feldweg auf die Kreisstraße bog und mit vorgeschriebener Geschwindigkeit in Richtung Bundesstraße und Autobahn fuhr. Er schaltete den CD-Spieler ein, das Andante des vorsorglich eingelegten Doppelkonzerts von Brahms beruhigte seine Nerven allmählich.
Er beachtete alle Vorschriften der Straßenverkehrsordnung peinlich genau, um nicht in eine Situation zu geraten, woraus später Schlüsse auf seinen Weg gezogen werden konnten. Zweiundzwanzig Minuten nach der Abfahrt vernahm er Geräusche, die darauf schließen ließen, dass seine Geisel das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Um die junge Frau nicht länger als nötig ihrer Angst zu überlassen, parkte er den Wagen an nächster Stelle, die kein Aufsehen erregen konnte.
Er stieg aus und ging zur Hecktür. Was er jetzt sagen sollte, hatte er sich sorgfältig ausgedacht. Das Wichtigste war, die zu erwartende Panik der Frau möglichst rasch zu dämpfen, sie in ihrer Todesangst zu beruhigen. Er öffnete, stieg ein und schloss die Tür wieder. Die Frau konnte den Geräuschen entnehmen, dass nun der Entführer vor ihr stand. Sie wand sich auf dem Bett, soweit die Gurte es zuließen, und stieß kurze Schreie aus, die durch den Mundverband erheblich gedämpft wurden.
„Haben Sie keine Angst“, begann er mit möglichst tiefer und ruhiger Stimme, „es wird Ihnen kein Leid geschehen. Hören Sie mir bitte ganz in Ruhe zu, damit Sie verstehen, worum es mir geht. Ich werde Sie nun zu einem Ort fahren, wo Sie für kurze Zeit leidlich bequem leben können. Es wird Ihnen an nichts fehlen, außer an Ihrer Freiheit. Aber wenn Sie geduldig und verständnisvoll mitmachen, werden Sie bald wieder frei und zu Hause sein. Leider muss ich Sie noch eine Weile hier liegen lassen, wir haben eine lange Fahrt vor uns. Sie haben sicher Durst, deshalb gebe ich Ihnen jetzt zu trinken. Ich werde einen Strohhalm durch die Mundbinde stoßen und Ihnen eine Flasche mit Mineralwasser hinhalten. Trinken Sie möglichst langsam und in kleinen Schlucken. Sind Sie bereit?“
Sie nickte, die Tränkung verlief ohne Probleme.
„Zu essen bekommen Sie später. Und wenn Sie Druck auf der Blase verspüren, lassen Sie es ruhig laufen, wie ein Baby, ohne Scham. Wenn wir angekommen sind, werden Sie Gelegenheit haben, sich zu waschen und frische Kleider anzuziehen. Wenn Sie jetzt keinen Durst mehr haben, nicken Sie bitte mit dem Kopf. Okay so? Danke. Und bitte versuchen Sie, sich zu beruhigen. Ich versichere Ihnen aufs Ehrenwort, dass Ihnen nichts geschehen wird. Bis später.“
Er widerstand der Versuchung, der Frau tröstend übers Haar zu streichen, sie hätte es vermutlich falsch gedeutet und wäre erst recht erschrocken. Leise schloss er die Hecktür, trat neben dem Wagen ins Gebüsch, um seine Blase zu leeren, dachte dabei an die Frau, die gewiss in misslicher Lage war, was den Überdruck im Unterleib betrifft. Er stieg ein, startete und fuhr wieder los. Nach einer Stunde hielt er wieder, fragte die Frau, ob sie Durst habe, gab ihr ein wenig zu trinken, lockerte einen zu fest gezogenen Gurt etwas und fuhr weiter. Nach weiteren dreieinhalb Stunden hatte er sein Ziel erreicht, ein kleines, in der Lichtung eines riesigen Waldgebietes liegendes Häuschen, davor ein Stück Wiese mit einem teilweise eingefallenen Zaun. Links vom Hauseingang stand ein alter Ziehbrunnen. Der Mann hatte die Kate vor einem Jahr entdeckt, hatte die Besitzer, die neunzig Kilometer entfernt lebten, ausfindig gemacht, hatte die Miete für drei Jahre im Voraus entrichtet und schriftstellerische Arbeit als Grund für seinen Wunsch nach Abgeschiedenheit genannt. Die Besitzer, beide in hohem Alter und ohne Nachkommen, waren einverstanden, dass er seinen Zweitwohnsitz nicht anmeldete, so mussten sie die Einnahme nicht dem Finanzamt melden. Nach und nach hatte er das Haus, das eine halbe Tagesreise von seinem Lebenszentrum entfernt lag, nach seinen Wünschen und Bedürfnissen hergerichtet und bewohnbar gemacht.
Er öffnete die Hecktür des Wagens, sagte einige beruhigende Worte und erklärte der Frau, was er nun vorhatte. Er werde sie in ein Haus bringen, darin würde sie für einige Zeit bleiben und sollte es so bequem wie möglich haben. Er werde nun die Gurte entfernen und sie an der Hand ins Haus führen. Sie solle bitte Verständnis dafür haben, dass er ihr die Augenbinde erst etwas später abnehmen werde, aber den Mund könne er ihr schon jetzt frei machen, sie müsse wissen, dass alles Schreien nutzlos sei, da hier weit und breit niemand außer ihnen wohne. Ob sie alles verstanden habe? Sie konnte nun aufstehen, was ihr etwas schwerfiel nach der unbequemen Fahrt. Er nahm sie behutsam an der Hand, führte sie zur Wagentür, stieg zuerst aus und hob sie dann ins Freie, ließ ihre Füße in den sündhaft teuren Laufschuhen vorsichtig den Boden berühren, damit sie wusste, dass sie auf festem Grund stand, führte sie dann in das Haus, in dem es trotz langem Lüften etwas modrig roch, erklärte, dass sie im Hausflur seien und das Wohnzimmer betreten würden, sagte, dass sie nun in ein hinteres Zimmer gingen, das ihr Wohnraum werden sollte. Er übertrieb alle entstehenden Geräusche, damit die Frau erahnen konnte, was im Augenblick geschah. Jetzt , sagte er, sind wir im hinteren Zimmer, hier ist ein Stuhl. Er schob den Stuhl so nah heran, dass sie ihn spürte, und drückte sie dann sanft auf den Sitz. Ich mache jetzt das Licht an , sagte er, entzündete ein Streichholz – die Frau erschrak heftig – und brachte den Glühstrumpf einer Gaslampe an der Zimmerdecke zum Leuchten. Ich verlasse jetzt das Zimmer , sagte er, und ich sage Ihnen von außen, was Sie tun sollen. Er schloss geräuschvoll die Tür, öffnete eine Klappe, die in die Tür eingelassen war, stellte sich etwas zur Seite, so dass er von innen nicht gesehen werden konnte und sagte, sie dürfe nun die Augenbinde abnehmen.
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