»Das wird nie geschehen, Philipp. Ich fühle, daß der Tod seine Ansprüche an mich geltend macht, und würde auch mit Freuden diese Welt verlassen, wäre es nicht um deinetwillen, mein Sohn! Ich trage schon längst den Tod im Herzen, Philipp – und habe lange, lange um meine Auflösung gebetet.«
»Aber warum das, Mutter?« versetzte Philipp mit Derbheit. »Ich habe doch mein Bestes gethan.«
»Ja, mein Kind, das hast du – und möge Gott dich dafür segnen. Wie oft war ich nicht Zeuge, daß du dein ungestümes Temperament zügeltest und Deinen gerechten Unwillen niederkämpftest, um die Gefühle deiner Mutter zu schonen. Erst vor einigen Tagen ließ dich nicht einmal der Hunger deiner Mutter ungehorsam werden. Und, Philipp, du mußt mich für wahnsinnig gehalten haben, daß ich so lange darauf bestand, dich hier zu behalten, ohne dir einen Grund anzugeben. Ich will dir bald das Weitere sagen.«
Die Wittwe drehte der Kopf auf dem Kissen und blieb einige Minuten ruhig. Nachdem sie auf's Neue ihre Kräfte gesammelt hatte, nahm sie wieder auf:
»Ich glaube, ich bin zu Zeiten verwirrt gewesen – ist's nicht so, Philipp? Ach, Gott weiß, ich trage ein Geheimniß in meinem Herzen, das wohl im Stande ist, ein Weib in Wahnsinn zu hetzen. Es hat mir weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe gelassen, meine Vernunft verstört und jetzt endlich, dem Himmel sei Dank! diese sterbliche Hülle zusammen gebrochen. Der Schlag ist gefallen, Philipp – ich weiß es gewiß. Du sollst jetzt Alles erfahren – und doch möchte ich lieber schweigen – es wird dir das Gehirn verkehren, wie es das meinige verkehrt hat, Philipp.«
»Mutter,« versetzte Philipp angelegentlich, »ich beschwöre Euch, laßt mich dieses todbringende Geheimniß vernehmen. Mag Himmel oder Hölle dabei betheiligt sein, ich fürchte es nicht. Der Himmel kann mir nicht schaden, und dem Bösen biete ich Trotz.«
»Ich kenne deine kühne, stolze Seele, Philipp – und deine Geisteskraft. Wenn Jemand im Stande ist, die Last einer so schrecklichen Kunde zu tragen, so bist du's. Mein Gehirn war leider zu schwach dafür; aber ich sehe, es ist meine Pflicht, dich davon zu unterrichten.«
Die Wittwe hielt für eine Weile inne, um ihre Gedanken für das, was sie zu eröffnen hatte, zu sammeln. Einige Minuten rannen Thränen über ihre eingesunkenen Wangen nieder; dann aber schien sie die erforderliche Kraft und Entschlossenheit gewonnen zu haben.
»Philipp, ich will von deinem Vater mit dir sprechen. Man glaubt – er sei – auf der See ertrunken.«
»Wie – und das wäre nicht so, Mutter?« versetzte Philipp mit der Miene der Ueberraschung.
»Oh nein!«
»Aber er ist doch schon lange todt, Mutter?«
»Nein – ja – und doch – nein,« sagte die Wittwe, ihre Augen bedeckend.
»Sie redet irre,« dachte Philipp, nahm aber wieder auf:
»Wohlan denn, Mutter, wo ist er?«
Die Wittwe erhob sich und ein Zittern lief über ihren ganzen Körper, als sie entgegnete:
»Er erleidet im Leben das Gericht .«
Die arme Frau sank dann wieder auf das Kissen zurück und barg ihren Kopf unter den Betttüchern, als suche sie Schutz gegen den Stachel ihrer eigenen Erinnerungen. Philipp war so verwirrt und erstaunt, daß er nicht antworten konnte. Einige Minuten schwieg er; dann aber konnte er die Qual der Ungewißheit nicht länger ertragen und flüsterte leise:
»Das Geheimniß, Mutter, das Geheimniß! Geschwind, laßt mich's hören.«
»Ich kann dir jetzt Alles sagen,« versetzte die Mutter mit feierlicher Stimme. »Höre mich, mein Sohn. Der Charakter deines Vaters war dem deinigen nur zu ähnlich – ach, möge sein schreckliches Loos eine Lehre für dich sein, mein theures Kind! Er war kühn, wagehalsig und, wie man sagt, ein Seemann ersten Rangs. Er ist nicht von hier, sondern von Amsterdam gebürtig, wo er übrigens nicht leben mochte, weil er noch der katholischen Religion anhing. Du weißt, Philipp, daß, unserem Glaubensbekenntniß zufolge, die Holländer Ketzer sind. Es sind jetzt siebenzehn Jahre oder mehr, daß er in seinem schönen Schiffe, dem Amsterdamer, mit einer werthvollen Ladung nach Indien ausfuhr. Es war seine dritte Indienreise, Philipp, und hätte, wenn es Gottes Wille gewesen wäre, auch seine letzte sein sollen, denn er hatte auf den Ankauf jenes guten Schiffs nur einen Theil seiner Ersparnisse verwendet, und bedurfte nur noch einer einzigen Fahrt, um sich ein schönes Vermögen zu machen. Ach! wie oft sprachen wir mit einander über das, was wir thun wollten nach seiner Rückkehr; und wie trösteten mich diese Pläne für die Zukunft über seine Abwesenheit – denn ich liebte ihn zärtlich, Philipp, da er stets gütig und freundlich gegen mich gewesen war. Oh, wie zählte ich die Stunden bis zu seiner Heimkehr! Das Weib eines Seemanns hat kein beneidenswerthes Loos. Wie viele Monate sitzt sie einsam und allein, in den langen Docht der Kerze schauend und auf das Heulen des Windes lauschend, der ihr schlimme Ahnungen über Schiffbruch und Wittwenschaft zuflüstert. Er war bereits sechs Monate fort, Philipp, und ich sollte noch ein langes, trauriges Jahr harren, ehe er wieder zurückkehrte. Eines Abends, mein Kind, warst du fest eingeschlafen – du, der einzige Trost in meiner Verlassenheit. Ich hatte gewacht, während du schlummertest. Du lächeltest und sprachest halb den Namen der Mutter aus. Endlich küßte ich deine nichts ahnenden Lippen, kniete nieder und betete um Gottes Segen für dich, mein Kind, und auch für ihn – mir damals noch nicht träumen lassend, daß ein so schrecklicher, so fürchterlicher Fluch über ihn ergangen war.«
Die Wittwe haschte nach Luft und nahm dann wieder auf. Philipp konnte nicht sprechen. Seine Lippen öffneten sich und seine Augen hafteten an der Mutter, als wollte er ihre Worte verschlingen.
»Ich verließ dich und ging die Treppe hinunter in das Zimmer, welches seit jener schrecklichen Nacht nicht wieder geöffnet wurde. Ich setzte mich nieder und las, denn der Wind heulte, und wenn ein Sturm weht, kann das Weib eines Seemanns selten schlafen. Mitternacht war vorüber und der Regen schoß in Strömen nieder. Eine ungewöhnliche Furcht wandelte mich an, ohne daß ich mir den Grund zu erklären vermochte. Ich stand von dem Kanapee auf, tauchte meine Finger in das Weihwasser und bekreuzte mich. Ein heftiger Windstoß brauste um das Haus und beunruhigte mich noch mehr. Ich hatte eine schmerzliche, furchtbare Ahnung. Da wurden plötzlich Fenster und Fensterläden hereingeweht. Das Licht erlosch und ich war in völliger Finsterniß. Im Schrecken schrie ich laut hinaus, erholte mich aber endlich wieder und war eben im Begriff, an das Fenster zu gehen, um es wieder zu schließen – da sah ich langsam – deinen Vater – zum Fensterrahmen hereinkommen! – Ja, Philipp – es war dein Vater!«
»Barmherziger Gott!« murmelte Philipp in dumpfem, fast ersticktem Flüstertone.
»Ich wußte nicht, was ich denken sollte – er war im Zimmer und trotz der dichten Finsterniß stand doch seine Gestalt so klar und deutlich vor mir, wie am hellen Mittage. Die Furcht schreckte mich zurück – seine theure Gegenwart zog mich zu ihm hin. Ich blieb an der Stelle, wo ich war, vor Angst fast erstickt. Sobald er sich im Zimmer befand, schlossen sich Fenster und Läden von selbst und die Kerze entzündete sich wieder. Jetzt dachte ich, daß es eine Erscheinung sei, und sank ohnmächtig zu Boden.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Kanapee, und eine eisig kalte, feuchte Hand hielt die meinige umfaßt. Dies ermuthigte mich wieder und ich vergaß die übernatürlichen Zeichen, welche seine Erscheinung begleiteten. Ich meinte, er sei verunglückt und wieder nach Hause zurückgekehrt. Ich öffnete meine Augen und erblickte meinen theuren Gatten, dem ich mich in die Arme warf. Seine Kleider waren vom Regen durchnäßt, und es dünkte mich, als ob ich einen Eiskörper umfaßt hätte – aber nichts ist im Stande, die glühende Liebe einer Frau zu zügeln, Philipp. Er nahm meine Liebkosungen hin, ohne sie jedoch zu erwidern, oder auch nur zu sprechen; dabei sah er gedankenvoll und traurig aus.
Читать дальше