Erst verachtete Pia ihn, später bemitleidete sie ihn, weil er so gar nichts verstand. Ein Trottel - in dieser Hinsicht..
Pia hatte damals gedacht „Aber ich bin fair! Ich bin dein Widerpart und kämpfe mit offenem Visier! Sie hingegen kämpft verdeckt, sie ist dein unlösbares Rätsel“ Jetzt lag er tot im Kühlraum des Kankenhauses und bis zum bitteren Ende hatte er nichts verstanden.
Pia erinnerte sich - die Hand mit dem Buch sank herunter - an die Sterbenacht. Das war gerade zwei Tage her. Morgen gab es eine pompöse Beerdigung, das stand fest.
‚Nachts. Im Krankenhaus. Es herrschte diese ungute, erwartungsschwangere Stille. Der Vater rang nach Luft. Schnappatmung nannten es die Ärzte. Pia nannte es für sich schweres Schnarchen, weil sie es sonst nicht hätte aushalten können. Er lebte noch, ihr Vater. Sie wollte ihn immer lieben, Pia wollte immer ein gutes, braves Kind gewesen sein. Pia wollte, dass er sie liebte. Jetzt saß sie an seinem Sterbebett.
Reden konnten sie wenig, denn er bekam kaum Luft. Drei Uhr in der Früh. Er war wach. Er wollte heim. Dieses Bett verlassen, in dem er sterben würde. Pia dachte an die Worte der Pfleger und dass es so kommen würde. Er wusste, dass er sterben würde. Vor einer Woche war er ins Krankenhaus gegangen, wissend, dass er nicht mehr heimkommen würde.
Er hatte alle anrufen lassen, alle könnten sich von ihm verabschieden.
Jetzt wollte er, dass Pia ihn anzöge. Er unterbreitete seinen Plan, wie sie das Krankenhaus ungesehen verlassen könnten. Pia rief
den Pfleger. Pia erinnerte sich, wie winzig die Seele wurde, als sie mit ihrer vierundvierzigjährigen Kinderstimme flüsterte „ich hab Dich lieb“, seine Augen lächelten und er röchelte „ich Dich auch“.
Der Pfleger hatte den Raum verlassen und nun betrat der Tod die Bühne. Der Sensenmann. Pia spürte ihn, der Tod kam, bereit ihn zu holen. Der Vater bereit mit ihm zu gehen. Pia fühlte sich winzig. Sie verspürte die Erleichterung, dass es nicht sie betraf. Sie durfte leben. Gleichzeitig schämte sie sich dafür. Aber der Vater wartete. Er wartete auf sie, seine Frau. Die, die zu Hause saß. Die, die nicht seine Hand hielt. Also ging der Moment vorüber.
Ein kalter Wintermorgen, grau- sah zum Fenster herein. Eine Amsel zwitscherte. Pia öffnete das Fenster und wieder kam so ein Moment, wo sie sah, dass er gehen wollte. Es war an der Zeit. Er wartete. Er wartete auf sie, auf seine Frau, die Mutter seiner Kinder. Sie, die nicht an seinem Bett saß. Sie, die erst spät kommen sollte, fast zu spät. Er wartete seit 1948.
Pia atmete tief durch, mussten die Kinder das verstehen, was diese Ehe über die Jahrzehnte zusammenhielt? Stand es ihr zu, das zu fragen? Ging sie das was an? Pia öffnete erneut das Fenster, beugte sich zu ihm und er lächelt sie an und sagte „Danke“. Sein letztes Wort an sie. Sollte das die Versöhnung mit all den Jahren der Gewalt sein?‘
Pia stand auf, griff nach dem Sterbebild, das Morgen zu seinem Gedenken verteilt werden würde. Aus dem Foto strahlten seine blitzenden braunen Augen, sie sah sein lachendes Gesicht.
Arthur
Der Vater verstorben. Arthur fuhr mit dem Bus zur Aussegnungshalle. Abschied nehmen. Wie üblich, alle kümmerten sich um alles, aber niemand kümmerte sich um ihn. Selbst seine Zwillingsschwester Alma, die um einundzwanzig Minuten Ältere,
schaute nicht nach ihm. Arthur nahm in der hintersten Reihe platz. Er musterte den Sarg. ‚Ich bin dein Sohn Arthur und ich habe seit Geburt einen verkrüppelten Arm. Ich bin die Schmach der Familie‘. Unentwegt strömten Menschen in die Aussegnungshalle. Viele Menschen in schwarzen Kleidern. Verwandte, Nachbarn, ehemalige Kollegen, einige Vereinsfreunde und eine Delegation der Siedlergemeinschaft. Die Stimmen, ein verhaltener Klangteppich, hüsteln, flüstern, verstohlene Blicke, kurzes Begrüßungsnicken. Es war einer der frühen, ersten Frühlingstage in diesem Jahr, kein Wintertag und vorne stand der Sarg, in dem der Vater lag. Arthur sinnierte ‚Anfangen konntest Du mit mir nichts. Ich bin dein erstgeborener Sohn. Selbst wenn Alma einundzwanzig Minuten älter ist als ich, ist sie nur ein Mädchen. Aber ich bin dein Stammhalter und dein Erbe! Womit ich nichts anfangen kann. Aber du hast gekämpft für mich. Die Mutti schämte sich nur für mich. Die Sprachlosigkeit zwischen uns, als Zeichen eines vollumfänglichen Nichtverstehens! Ich dich nicht und du mich nicht. Nordpol und Südpol. Du wolltest etwas Gutes für mich, nur gab es zwischen uns keinerlei Berührungspunkte. Ich hätte Sänger werden können, aber das lag weit außerhalb deiner Vorstellungswelt. So bekam ich dank deiner Hilfe meine Gärtnerhelferstelle in der Lebenshilfe. Das hast du getan für mich. Muss ich dankbar sein? Bin ich dir dankbar? Ja, ich bin dir dankbar, so einer wie ich muss dankbar sein‘ Arthur stand auf und ging den Gang zwischen den Stuhlreihen entlang. Er hielt die Rose am äußersten Ende. Sie hätte ihn stechen können. Arthur mochte nichts, was klebte oder pikste. Die Rose wippte im Rhythmus seiner Schritte. Er ging durch das Spalier der ihm unangenehmen Blicke, spürte sie in seinem Rücken und legte seine Rose auf den Sarg, hastig, fast hektisch. Arthur mochte diese Aufmerksamkeit nicht. Ein echtes Opfer aus Dankbarkeit. Bei sich dachte er ‚ich hoffe du weißt es zu würdigen. Du, der du stets gerne im Mittelpunkt standest‘. Dann ging er zurück, wieder durch das dornige Spalier dieser Blicke und setzte sich. Jeder mit sich beschäftigt, jeder allein, obwohl so viele Menschen den Saal bevölkerten.
‚Gab es zwischen uns noch etwas, was gesagt sein müsste?‘ Arthur erahnte etwas. Ungenau, grau, versunken in der Zeit, etwas das seinen Vater mit ihm besonders verband, etwas das es wert gewesen wäre, erinnert zu werden, aber es fiel ihm nicht ein, er erinnerte es nicht.
Alma
Almas Hände zitterten, ihr ging es schlecht, sie fühlte sich kraftlos. Während Alma in sich gekehrt den Gedanken nachhing, lachte die Sonne vom Himmel, der in frühlingshaftem Blau erstrahlte, mitten im Winter. Die Vögel zwitscherten, der Frühling nahte, Aufbruch und Beginn. Alma dachte verbittert ‚Ich war Deine älteste Tochter, eine der Zwillinge und ich war das erste Kind. Ein Mädchen, was für eine Enttäuschung. Nur ein Mädchen. Einundzwanzig Minuten nach mir kam der ersehnte Stammhalter. Arthur. Die Freude währte nur kurz. Großvater wollte nicht, dass sie den Krüppel nach ihm benannten. Mutter hatte es uns oft erzählt. Alma und Arthur. Ich sehe Dir ziemlich ähnlich, eine Gemeinsamkeit, die wenig zählte. Deine Erwartungen waren hoch. Irgendwann habe ich sie wohl nicht mehr erfüllt. Dann musste ich ins Internat, das tat weh‘. Almas Augen füllten sich mit Tränen. Sie blickte auf den Sarg. Tausend widersprüchliche Bilder tanzten in ihrem Kopf. Da ist der Vater, der lachte und mit den Kindern bastelte, einen Drachen baute, der grillte und die ‚Zigeunersoße‘ erfand, der bei den Kindern Sandkuchen kaufte, der mit blitzenden Augen, viele wilde Ideen sofort in die Tat umsetzte. Unterhaltsam, chaotisch, ein Lebenskünstler und dann gab es da den zweite Mann, der in ihm steckte. Der, dessen Augen schwarz wurden, vor Zorn, Wut, Hass. Der schlug, der brüllte, der alles verbot, der nur das Schlechteste von seinen Kindern annahm. Der Mann, der in der Familie Angst und Schrecken verbreitete. Alma erinnerte sich, an einen Urlaub in Schweden, oder wie er Tilde …pscht, pscht … daran wollte sie jetzt nicht denken. Liebevolles Gedenken! Liebevolles Gedenken! Ja, nur liebevolles Gedenken ist einer Beerdigung würdig. Alma schaute sich um und registrierte zufrieden ‚Mein Kranz ist der Größte und Teuerste! Ich habe stets darauf geachtet, dass meine Geschenke die Größten, die Teuersten, die Schönsten sind. >Deine Bestechungsgeschenke< verspottete sie ihr Mann. Aber ja, das musste so sein. Alma erinnerte sich, wie sie die silbernen Bilderahmen mit ihren Bildern auf dem Buffet stets nach vorne rückte, jedes Mal wenn sie die Eltern besuchte, damit Vati und Mutti sie sofort sahen. Genauso wie sie stets darauf geachtet hatte, dass sie als Letzte bei den Familienfeiern ankamen, das sicherte ihnen die Aufmerksamkeit Aller. Da konnte sie der gesamten Familie und Verwandtschaft das nagelneue, sündhaft teure Auto präsentieren. Sie erinnerte sich, wie sie es genossen hatte, das große Hallo. Alle Augen auf sie gerichtet. Männer verstanden so etwas nicht. Alma schwelgte in Erinnerungen. Ihr Leben lief gut. Sie besaßen Häuser, eine gutgehende Praxis, zwei Luxusautos. Sie unternahmen exklusive Reisen, sie führten eine gute Ehe. Sie hatte ihren Zahnarzt, bei dem sie gelernt hatte, gleich geheiratet. Sie hatte alle Erwartungen erfüllt. Alma fühlte Zufriedenheit in sich aufsteigen, sie sah sich als Siegerin. Diejenige, der immer alles gelang. Das erfolgreichste Kind! Zu guter Letzt hatte sie zwei Kinder bekommen, alles in der richtigen Reihenfolge. Jetzt würde sie erben.‘ Alma lies ihren Blick schweifen. Sie war die am besten angezogene Frau hier, frisch frisiert, geschminkt. Alles musste tipp topp sein. Ihre Kinder trugen jedes einen neuen, schwarzen Anzug mit weißem Hemd, beide saßen still neben ihr. Alma liebte ihre Kinder über alles. Ein und zweieinhalb Jahre alt, der Großvater konnte sie nicht mehr erleben. Alles ist gut. Sie würde ihren Kindern eine exzellente Erziehung angedeihen lassen, sie würde sie verwöhnen wo es nur ging, sie würde … Almas Gedanken sprangen. ‚Auf deinem Totenbett habe ich dir versprochen, mich um Arthur, meinen Zwillingsbruder zu kümmern, damit du in Ruhe sterben kannst. Ja, so großzügig war ich zu dir, mein lieber Vater. Ich bin ein guter Mensch. Der die größten Lasten dieser Welt mit Ruhe und Geduld erträgt. Der sich opfert. Ich weiß, wie man im Leben die Dinge richtig anpackt. Ich bin für andere da und manchmal denke ich, ich schaffe es nicht mehr‘. Alma schrak zusammen. ‚Arthur besaß eine Eigentumswohnung in Nürnberg, wie sollte das gehen? Sie in Oldenburg und er in Nürnberg? Da musste er eben umziehen! Er musste seine Wohnung verkaufen! Manchmal denke ich, ich schaffe es nicht mehr. Am Besten rede ich mit meiner Sitznachbarin, dann muss ich nicht mehr denken‘. Alma wandte sich der Person, die neben ihr in der Bank saß, zu. Sofort plapperte sie los, übertönte die Gedanken. Im angemessenen Flüsterton plauderte sie routiniert bis zum Beginn des Gottesdienstes. Aus dem Füllhorn ihres Small talk Schatzes schöpfend, türmte sie harmlose, nichtssagende Banalitäten Satz auf Satz in die feierliche, gedämpfte Stimmung, die das festlich mit Blumen geschmückte Gewölbe verbreitete.
Читать дальше