‚Ich hatte vorher mit den Ärzten geredet. Ich hätte dir eine Spritze gegeben, ich hätte das für dich getan, mein Vater. Ich bin ein guter Mensch, bereit dich zu ermorden, bereit dich zu erlösen. Du bist vorher gestorben. Als Kind habe ich mich versteckt, wenn ich dein Auto in der Auffahrt gehört habe. Ich erinnere mich nicht, ob du mich je geschlagen hast. Aber ich erinnere mich, an deinen Jähzorn. Egal, jetzt bin ich am Drücker!‘ Johannes stand auf. Er ging Richtung Wanduhr. Er tigerte ungeduldig den Flur entlang. Die Uhr zeigte nach neun. ‚Man muss in die Zukunft blicken. Ab jetzt werde ich mich um das gesamte Vermögen kümmern! Ich überzeuge sie schon davon, dass dies das Beste ist‘ Bei dem Gedanken besserte sich eine Laune schlagartig.
Matilde
Nach den Zwillingen erblickte Matilde das Licht der Welt. Wieder eine Tochter, das dritte Kind, 1952. Als Dreijährige konnte Matilde ihren Namen nicht richtig aussprechen, seither hieß sie Tilde. Sie liebte das Genaue, Akkurate, Exakte. Zahlen gaben Halt, die logen nicht, die zeigten sich verlässlich, berechenbar. Tilde galt als diszipliniert, präzise, korrekt. Sie arbeitete als Buchhalterin in einer renommierten Steuerkanzlei. „Stinklangweilig“ ätzte Johannes. Größere Unterschiede zwischen Geschwistern hätte es kaum geben können. Darüber hatte sie sich des Öfteren gewundert, wie Kinder, die dieselben Eltern haben, so verschiede Entwicklungen nehmen konnten.
Der erwartete Anruf traf ein. Der Vater war in den Mittagsstunden verstorben. Tot.Tilde und ihre Tochter Imke saßen über Fotoalben gebeugt, betrachteten die Fotos aus Tildes Kindheit. Weihnachten, Kommunion, Nikolaus und Schulbeginn. Tilde erinnerte sich. Sie strich über die Seiten, gedankenverloren sah sie ihre Tochter an: „Wir hatten eine schöne, unbeschwerte Kindheit. Ein schönes, neues Haus mit weitläufigem Garten. Wir haben Zelte und Baumhäuser gebaut.“ Imke nickte. Tilde schwieg, sie erinnerte sich. Es gab einen Sandspielkasten, im hinteren Teil des weitläufigen Gartens. Eine Schaukel. Sie und Alma im Sandkasten und Pia, wie sie dem Vater Sandkuchen verkauften gegen Erdbeeren oder Radieschen.
Tilde versank wieder in Gedanken. Der Vater war tot. Jetzt wurden alle liebevollen Erinnerungen herausgekramt. Sie war seine Lieblingstochter gewesen, da war sie sich sicher. Brauchte es dafür einen Beweis? Nein, Tilde genügte ihre eigene Gewissheit. Sie war seine Lieblingstochter - schon immer. Tilde tutzte. Es beschlich sie ein plötzliches Unbehagen. ‚Meine schöne Kindheit?‘ Sie rief sich zur Ordnung ‚Ja! Ich hatte eine schöne Kindheit und einen liebevollen Vater‘ versicherte sie sich selbst.
>Wer seine Rute schont, der hasst sein Kind; wer es aber liebhat, der züchtigt es bald<
Das hatte er oft gesagt, irgendetwas aus der Bibel. Tilde dachte trotzig, ‚ich war deine Lieblingstochter‘, sie merkte das Aufsteigen eines Klumpens im Hals. Jetzt bloß keine Aufwallungen hochkommen lassen, Kontrolle, alles unter Kontrolle! Tilde beherrschte sich, lies keine anderen Gedanken zu. Nein, alles o.k. - wie immer. Alles unter Kontrolle! Ökonomie der Emotionen. Niemand sollte sie weinen sehen.
Tilde hatte eine Suppe gekocht, eine dicke, sämige Kartoffelsuppe mit Majoran. Suppe zentriert. Suppe heilte Wunden, beruhigte die Sinne. Suppe ließ Aufregung oder Anspannung einfach dahinschmelzen in ihrer sanften, wohlschmeckenden Wärme. Erst auf der Zunge und dann im Bauch verströmte sie Wohlbehagen.
So hatte jeder seine Aufgabe. Pia und Johannes hatten in der Nacht abwechselnd beim Vater Wache gehalten. In der Früh hatte Johannes die Mutter ins Krankenhaus gefahren, Pia kam grau und erschöpft zurück.
Pia
Der Vater existierte nicht mehr. Gestorben, vor wenigen Stunden. Pia blickte auf ambivalente Erinnerungen. An ihn, den Vater. Sie las in ihrem Tagebuch, aus Kindertagen: „Sein Atem schlägt heiß in mein Gesicht, ich spüre die Feuchte, so nah ist er. Seine Augen glühen schwarz vor Wut, Hass, Zorn sie blitzen, sprühen Funken. Sein Gesicht ist verzerrt, ich erkenne ihn kaum wieder. Schweißtropfen stehen auf seiner Oberlippe. Der Mund bewegt
sich, was er schreit, höre ich nicht. Meine Arme sind dick, taub und rot, ich halte sie hoch, vor mich. In meinen Ohren rauscht es, wenn seine Fäuste mich treffen, wackle ich wie Pudding - alles ist in die Ferne gerückt. Es läuft nass und warm meine Beine hinunter. Ich schäme mich. Ich will ein gutes Kind sein. Ich bin 8 Jahre. Allein. Mutti ist nie da, wenn das passiert. Es passiert oft und dafür braucht es keinen Anlass. Ich beobachte ihn genau. Ganz genau. Immer.“
Pia blätterte, übersprang Seiten, gedankenverloren las sie: „‘Widersprich mir nicht!‘ herrschte er Mutti am Sonntagsmittagstisch an, sein Gesicht leicht gerötet. Seine Augen funkelten schon wieder gefährlich. Sein Finger kreiste am Rand des Rotweinglases und die Flasche halb leer, Alarmstufe rot. Spätestens jetzt musste man sich verdünnisieren. Mutti schwieg und senkte die Augen. Ihre Finger zwirbelten das Eck des Tischtuchs. Hilflos. Kampflos. Ohne Macht – ohnmächtig. Wie sooft. Alle Kinder blickten in ihre Teller oder irgendwo ins Leere. Angespannte Stille. Mozarts Flötenkonzert schwebte schwerelos im Raum, in einer gewalttätigen Stille, die vor Spannung fast zersprang, schwang sich die Querflöte unter atemlosen Tirilieren dem Blau des Himmels entgegen. Elegant, leicht und schwerelos. Ich widersprach! Er griff nach den Kartoffeln auf seinem Teller und warf nach mir.“ Sie lies das Tagebuch sinken. Pia wusste noch, dass sie damals laut gelacht hatte, weil es so absurd, so lächerlich erschien. Niemand spottet dem Tyrann - halbtot hatte er sie geprügelt.
Wieder eine andere Seite: „Die Ader auf seiner Stirn schwoll an, er brüllte, ich brüllte zurück, wir brüllten uns an. Ich hielt seinem Blick stand. Ich stand auf und ging, er sprang auf - hinterher. Außer sich vor Wut!“ Pia las den Satz: „Ich habe schon lange keine Angst mehr vor ihm, Prügel schrecken mich nicht mehr. Das weiß er, also setzte er jetzt auf Verbote und Psychoterror. Dafür lüge ich ihn an, dass sich die Balken biegen. Wir schenken uns rein gar nichts! Ein Machtkampf. Meine Lügen als Antwort auf den Terror, den er verbreitet! Alle lügen ihn an.“
Pia ließ gedankenverloren das Tagebuch sinken, die Gedanken wanderten, sie hörte seine Stimme: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohl ergehe auf Erden“. Pia hatte widersprochen. Das hieße nichts anderes, als wenn es einem nicht wohl erginge, dass man dann selber schuld sei, denn dann hast du eben deine Eltern nicht genügend geehrt. So einfach geht das. Du bist schuld. Du hast keine Forderungen zu stellen. Du hast Deine Eltern nicht zu kritisieren. Eltern machen nichts falsch. Basta.
Pia nahm den Faden wieder auf und las weiter.
„Wutentbrannt warf er die Türe so ins Schloss, dass die Glasscheibe mit einem Geräusch zwischen klirrend, kratzend und kreischend auf dem Boden zerschellte und in tausend Stücke zersprang. Stille! Immer noch sangen Vivaldis Geigen ihr Konzert in der sonntäglichen Mittagsstunde und ich sah seinem Gesicht an, dass er buchstäblich wieder zu sich kam. Ich drehte mich um und ging.“ Pia wusste, dass sie damals vierzehn Jahre altgewesen war. Immer war sie damit allein. Keines der anderen Familienmitglieder muckte. Der nächste Satz in der geschwungenen Mädchenhandschrift auf hellgrauen Zeilen auf den letzten Seiten des Tagebuchs mit leicht gelblichen Seiten lautete „Alles wurde anders! Aus der Ohnmächtigen wurde eine Mächtige - und was für eine!“
Pia las, die Tagebuchzeilen aus ihrer Kindheit: „Die Metamorphose der Mutter zur Eiskönigin - jeder der es hätte sehen wollen, hätte es sehen können Es kündigte sich lange vorher an. Sie wurde eine Meisterin darin, ihn zu blamieren, ihn auflaufen zu lassen, ihn zu konterkarieren. Ungewaschene, strähnige Haare, rotes, fleckiges Gesicht mit Pickeln. Zu dick, schlampige Figur, hässlich angezogen, hinkender Gang, ungepflegte Zähne. Stinkend, lustlos, freudlos! Keine Meinung – ihre Insignien der Macht.“ Pia erinnerte sich. Er flehte, er bettelte, er kaufte Pelzmäntel, Brillantringe, Perlenketten, Schmuck, eine Rolex – nichts half, weil er nichts verstand.
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