Damit sich diese Lebensläufe nicht nur zufällig treffen, sondern sich auch auseinandersetzen und „verknäueln“ können, fand Ingeborg Drewitz eine nachgerade geniale wie konsequente formale Lösung: Bar jeder äußeren Überlegenheit treffen sich P. und J. nicht im freien Lebensvollzug, der sie doch nur wieder in den Bann der eigenen Bezüge gezogen hätte, sondern in dem abgeschlossenen Raum und der ge(maß)regelten Zeit einer Nervenheilanstalt. Wegen der ähnlichen Krankheitsbilder werden sie zusammen in ein Zimmer verlegt ...
Aber hier hört die äußere Konstruktion auf, sich einzumischen, das allein führt nicht automatisch zum Gespräch, zur Auseinandersetzung. Selbst jetzt gäbe es noch genügend Möglichkeiten sich voreinander zu verkapseln, sich gegenseitig auszuschließen. Mit zarter Behutsamkeit läßt die Autorin erst nach und nach und sehr plausibel die beiden Männer aufeinander zugehen. Ist das Eis gebrochen, kommt es prompt zur Konfrontation: Zwei komplexe Charaktere, zwei Epochen ...
P’s Entscheidung, mitzuhelfen, die Sorgen und Nöte der gesamten Menschheit durch die Herstellung scheinbar billiger Energie abzubauen, entwickelte sich in der Vor- und Kriegszeit des 2. Weltkrieges. J’s Entscheidung, anstelle der rein rhetorischen Auseinandersetzungen als Studentenführer die Möglichkeit der konkreten Hilfestellung für die Randgruppen der Gesellschaft zu suchen, spiegelt sich in den Zeiten der APO, der Terroristenprozesse bis hin zu denen der Instandbesetzer. Jeweils davor und dazwischen stehen die Ausgangsdispositionen der Kinderzeit, geprägt durch die jeweiligen Elternhäuser, Frauen und Freunde ...
P. ist nicht Prometheus, so wie J. nicht Jesus ist!
Ingeborg Drewitz zeigt in ihrem Roman auf, warum Menschen die Wege des einen oder des anderen beschreiten. Dabei konnte sie nicht auf einen Archetyp und wollte auch offensichtlich nicht auf ein Prinzip zurückgreifen. Es mußten zwei „beinahe gewöhnliche Lebensgeschichten“ sein, die zu einer Entdeckungsreise in die Zwiespältigkeit des eigenen, durch hellenistische und christliche Kultur geprägten Selbst einladen.
P. ist bei allem Schrecken, den er vor sich verantworten muß, der in seiner Verzweiflung verständlichere, nähere Mensch. Im besten Wollen danebenzugreifen, aber immerhin etwas entschieden zu haben, wächst aus einer älteren, vertrauteren Wurzel als Liebe selbstlos leben zu wollen. J. mit seinem jesuanischen Antrieb gerade in dem jüngeren Handlungsträger festzumachen, ist provozierend und bedurfte neben der Sprachfertigkeit einer Ingeborg Drewitz auch der Kenntnis nicht nur von den Problemen der eigenen Jugend, sondern auch der nachfolgenden Generationen, um in dieser Figur nicht nur einfach das personifizierte Helfersyndrom zu stilisieren. Überhaupt Jesus ins Spiel zu bringen und ihn an einer „gewöhnlichen“ Biographie zu messen, hilft ein großes Tabu zu lüften.
Wie gesagt, P. ist nicht Prometheus und J. ist auf keinen Fall ein von den Toten auferstandener Jesus Christus, aber die beiden können noch voneinander lernen und am Schluß ganz gut miteinander leben – wenn auch vorerst nur in der Nervenheilanstalt.
Ingeborg Drewitz: Eingeschlossen. Roman. Claasen Verlag, Düsseldorf 1986. 240 Seiten, ISBN: 3-546-421795
Vö.: Frankfurter Hefte 11/1986; Stuttgart live 12/1986
Grolle, Daniel: Keinen Schritt weiter
Einen Meter vor dem Abgrund bewegen sich diese Geschichten, rufen ein Anspannen der Nackenhaut hervor, wie einst die Thriller von Hitchcock. Anstelle von aufatemlassenden Happyends muß mensch sich allerdings, je nach Stärke seiner/ihrer Verdrängungsmechanismen, mit dieser Gänsehaut noch eine Weile umgehen. Derart von der Dramaturgie gefesselt geraten die den Geschichten zu Grunde liegenden Geschehnisse, wie sozial-emotionale Aushöhlung oder ökologischer Selbstmord auf Raten, in den Hintergrund. Banale Weisheitslehre wird damit vermieden, überläßt es dem/der Leser/in seine/ihre (womöglich letzten Schlüsse) zu ziehen.
Es braucht schon Lebenserfahrung und wache Sinne, solche Geschichten aufzubauen, und sprachliche Kunstfertigkeit diese Inspirationen dann so gekonnt umzusetzen. Z.B. einer Ewiggestrigen im Aldi zuzuhören, oder mit einem alten Friedhofsgärtner einem Telefonkabel bis ins Grab folgen, dem Liebesspiel zweier Kräne zusehen oder bei einem 92-jährigen eine mumifizierte Frau aufstöbern und zuletzt zu Tode verletzt auf einer Eisscholle die Elbe runter ins Meer treiben, sind nur einige „Ausblicke“ auf das Kaleidoskop des alltäglichen Schreckens.
Wer hat soviel, daß er davon abgeben kann, ohne arm daran zu werden?
Daniel Grolle, erst 23 Jahre jung und schon vom renommierten Luchterhand Verlag entdeckt. Literaturpreise sind bei ihm sicher nur noch eine Frage der Zeit.
Daniel Grolle: Keinen Schritt weiter. Kurzgeschichten. Luchterhand Verlag, Darmstadt 1986. 102 Seiten, ISBN: 3-472-86641-7, später ISBN 3-630-86641-7
Vö.: Bremer Blatt 1/1987; zitty 2/1987
Harth, Ulli: Die vollendete Sieben der Achterbahn
Dem Buch in Paperback und Großauflage wird Konkurrenz gemacht.
Eschwege und Wölbling – der eine Drucker, der andere Zeichner – haben einen Kleinverlag gegründet und setzen auf das gut gestaltete Buch in begrenzter Auflage. Das hat seinen Preis. Die signierte Vorzugsausgabe mit 8 Originalgrafiken soll 188 DM kosten. Aber auch die „Normalausgabe“ trägt eine handschriftlich eingetragene Nummer und das Autogramm des Autoren Ulli Harth und des zeichnenden Verlegers Wölbling. Preis 35 DM.
Harths Miniaturgrotesken sind Texte, die in ihrer Form an Aphorismen erinnern, aber nicht mit schwer beladenen Sätzen das Wohl der Welt aufdrücken wollen. In diese Worte kann mensch hineinpusten, daß sie bis zum Großen Bären fliegen, so leicht liegen sie auf den Seiten. Manchmal ist das aber auch, als wenn ein Staubkorn oder eine Mücke unters Augenlied gerät, sodaß es tränt. Das fängt z.B. so an:
„Mit runderneuerten Gesichtern rollt die Passantenherde über den Zebrastreifen ...“ und hört in einem anderen Text so auf: „Eine öffentliche Hand quillt soviel gepreßtes Lächeln, wie kein Mensch auf einmal verputzen kann.“ Aber solche Auszüge werden diesen bis ins Komma ohne Brüche durchgearbeiteten 41 Miniaturgrotesken nicht gerecht. Dafür muß sich mensch ein wenig Zeit abknapsen und sie auf der Zunge zergehen lassen. Wölblings Flachdruckgrafiken sind den Texten kein Gegen-Gewicht, vielmehr versuchen sie die Wortspiele wie besagtes Pusten aufzunehmen und noch weiter fortzutragen – oft gelingt das auch, manchmal ist es nur wie doppelt gemoppelt, sind die Texte farbiger als die Bilder. Wer für die Geschenktage nach etwas Ausgefallenem, Besonderem sucht, und sich nicht von dem kleinen gelben Nachtgespenst auf dem blauen Unschlag abschrecken läßt, könnte in diesem Buch das Passende gefunden haben. Ulli Harth: Die vollendete Sieben der Achterbahn. Miniaturgrotesken. Eschwege & Wölbling Verlag. Friedrichsdorf 1986. 76 Seiten. 35,- DM. ISBN: -- Vö.: carpe.com 31.12.1999; buechernachlese.de.vu 31.12.2000
Körner, Heinz (Hrsg.): Wieviele Farben hat die Sehnsucht
„Gefährliches Zeug“ nennt ein Bekannter von mir alles, was dem Genre Märchen nahekommt. „Gefährlich“ deshalb, weil es so moralisch sei. Demnach ist die „Märchensammlung“ WIEVIELE FARBEN HAT DIE SEHNSUCHT hochbrisanter Stoff. Der Lucy Körner Verlag hat den Anspruch „Bücher für eine bessere Welt“ zu verlegen und apostrophiert die Sehnsucht als „eine Kraft, die unsere Träume in die Wirklichkeit trägt“ . 12 Geschichten, die mit ihren gewollten aktuellen Bezügen eher Gleichnisse als Märchen sind, laden ein, dieser Kraft auf die Spur zu kommen. Roland Kübler ist allein mit sechs Geschichten vertreten, an denen ich vor allem die poetische Sprachmelodie schätze. So läßt er u.a. Wale fast schon hörbar über die grausame Geschäftstüchtigkeit der Menschen singen, und man mutet sich danach auch traumselig ein Märchen zu, das mit „Der Sinn des Lebens“ überschrieben ist. Die fünf anderen Autoren/innen W. Eicke, M. Eichborn, P. Partisch und B. Losse mit je einer Erzählung und Heinz Körner mit zweien fügen sich da insgesamt gut ein bzw. tragen redlich ihr Quantum Farbe bei. Fragen nach Grundsätzlichem werden hier märchenhaft unbeschwert angegangen, und finden Lösungen, die einem den Weg zum Therapeuten ersparen oder eröffnen mögen. „Die Frau aus dem Regenbogen“ scheint allerdings direkt auf der Couch aufgenommen – wie hier der Sohn dem „alten Vater“ dessen Sprachlosigkeit Beine macht, ist nicht mehr anrührend, sondern schon penetrant in seinem Wunschdenken. Das Gros der Geschichten baut sich aber straff und ohne Brüche auf, und erfreut den, der Geschriebenes dieser Art liebt, durch das Fehlen jedweder Hektik. Ruhig und bedächtig, heiter und stets besinnlich geben sie einem die Zeit, wieder mal über die offensichtlich eindimensionale Perspektivlosigkeit der Macht- und Geldmenschen zu staunen und selbst wieder etwas Sehnsucht zu wagen. Die Illustrationen von H. Deinhard, S. P. Joshua und R. Schröder sind in bewährter Pünktchenmanier liebevoll bis ins kleinste Detail ausgestaltet und wie die Schrift braun gedruckt. Jetzt schnell Kerzen besorgen, auf den Abend warten, dann lesen und die Farben zählen. Nur weil die Anderen, die Cleveren Moral als Blödsinn für sich vereinnahmen, muß man sich ihnen ja nicht gleich cool über den Dingen stehend anschließen. Heinz Körner (Hg.): Wieviele Farben hat die Sehnsucht. Märchensammlung. Lucy Körner Verlag, Fellbach 1986. 96 Seiten. ISBN: 3-922028-12-8 Vö.: Bremer Blatt 9/1986; zitty 15/1986; Ulcus Molle 10-12/1986
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