Von den Inhabern der Macht wurde Vogel hofiert, auch wenn er sich manchmal bösartig benahm. Jede spitze, spöttische, geistreiche, selbstgefällige Bemerkung, die er öffentlich äußerte, verschleierte sein wahres Wesen nur noch mehr. Manchmal ließ er scheinbar Schwächen erkennen, die in Wirklichkeit aber nicht seine Person betrafen. Er versuchte abzulenken, sich unwissend zu stellen, doppelsinnige Assoziationen herzustellen, vielleicht irrezuführen, zu übertreiben, zu karikieren, um als eigentlicher Systemleugner, als Kritiker des Zeitgeistes nicht erkannt zu werden. So genoss er Narrenfreiheit .
„Ja Doktor, durch unsere Arbeit müssen wir ein in sich stabiles System daraus machen, das sich gut verkaufen lässt“, setzte Weise fort.
„Aber uns fehlt doch viel zu viel, um aus einem Ballon einen dauerhaft stabilen Körper zu machen. Es fehlt an allen Ecken etwas“, erwiderte Vogel.
Vogel nickte Weise zu und ging weiter.
6. - 80er Jahre – Im Labor
„ Ich dachte nicht, sondern ich untersuchte“
Wilhelm Conrad Röntgen
Nach der Belegschaftsversammlung verzog sich Thalheim in sein Labor, er wollte jetzt keine zwischenmenschlichen Kommunikationen. Er zog das Experimentieren, das Hantieren mit der toten Materie vor. Das Labor unterschied sich in der Grundausstattung kaum von anderen chemischen oder biochemischen Laboratorien. Große Laborschränke mit verschiedenen Glasgeräten, wie Bechergläsern, Messzylindern, Petrischalen, Glastrichtern, Flaschen mit Chemikalien standen an der Wandfront. Wasserbad, Zentrifuge, Fotometer waren auf Wandtischen platziert. Auf einem gesonderten erschütterungsfreien Wägetisch hatten eine Halbmikrowaage und eine Laborwaage ihren Platz. Kleine Roboter dienten zur Dosierung der winzigen Mengen an Reaktionsbestandteilen. Ein Reaktor zur Festphasensynthese von Proteowirkstoffen an polymeren Trägern stand etwas abseits.
Unter einem Abzug standen mehrere Stative, an denen über Klemmen und Muffen kleine Zweihals-Schliffkolben und jeweils Rührmotoren befestigt waren. An der gesamten Fensterfront standen Arbeitstische, die Sitznischen aufwiesen, an denen Schreibarbeiten und Auswertetätigkeiten im Sitzen erledigt werden konnten, dazwischen befanden sich Unterschränke.
Thalheim arbeitete gern experimentell. Die Umwandlung von chemischen Verbindungen – eben das Kochen der Ansätze – bedeutete ihm Erfüllung. Das war wahrscheinlich auch der Grund, dass er zu Hause übers Wochenende das Kochen der Mahlzeiten übernahm. Er benutzte in seiner Wohnung auch Erlenmeyerkolben und Bechergläser als Vasen und Karaffen oder auch mal als Trinkgefäß. Nicht eingeweihte Gäste wussten sehr schnell, dass sie bei einem chemisch Arbeitenden zu Besuch waren, wenn er mit typischer Berufsgestik nach dem Umrühren seines Tees mit der Spitze des Teelöffels die Innenseite des Teeglases berührte, wie er es eben von der quantitativen Analyse her kannte. Das Verfolgen der Reaktionen im Labor bereitete ihm in der Regel Befriedigung, gern veränderte er die Stoffe und stellte neue Verbindungen her. Für ihn waren die chemisch–biochemischen Versuche intellektuelles Handwerk, wofür er den Kopf wie die Hände einsetzen musste, alles im dosierten Verhältnis. Die Missachtung dieser ausgewogenen Beziehung wäre ihm einmal bald zum Verhängnis geworden. Während des Studiums unterrichtete er vertretungsweise in einer Schule Chemie. Zur Faschingszeit wollte er eine besondere Einlage geben und die Sinnesfreuden der Chemie spüren lassen. In eine schüsselförmige Reibschale, den Mörser, gab er eine Spatelspitze Chlorat und ebenso eine kleine Menge elementaren Schwefels. Er umwickelte die Hand mit einem Handtuch, mischte und rieb kräftig mit dem Pistill, dem keulenförmigen Stößel. Es sollte knistern und leicht knattern. Es tat sich nichts. Also fügte er noch mehr Schwefel hinzu und rieb. Mit einem riesigen Knall trat plötzlich die Reaktion ein, der Porzellanstößel war zerbrochen, das Handtuch hatte ein gewaltiges Loch – er als Experimentator war unverletzt, aber die Schüler der ersten Reihe bekamen Nasenbluten und in der Tür erschien kurz danach stürmisch die gesamte Lehrerschaft.
Die jetzigen Versuche waren komplexer Natur, er musste genau wissen, wo die Reaktionspartner angreifen sollten, unerwünschte Reaktionen waren zu unterbinden. Bei der Planung und Durchführung der Experimente, mit der konzipierten Versuchsstrategie im Kopf, dachte er nicht an andere Dinge, persönliche Probleme oder Fragestellungen waren verdrängt.
Thalheim synthetisierte bioaktive Eiweißkörper. Nacheinander wurden die verschiedenen Aminosäurebausteine in einem aufwendigen Verfahren aneinander gefügt. Wie bei der Paarung zweier Partner im Alltag suchte sich die aktivierte, reaktionsfreudige Carboxylgruppe eines Bausteins die reaktionsbereite Aminogruppe eines anderen Partners. Sie kamen sich näher. Sie umarmten sich sinngemäß. Die Elektronen des Stickstoffs an der Aminogruppe des einen Partners wurden von der partiell positiven Stelle am Kohlenstoff der Carboxylgruppe des anderen angezogen, sie kamen sich ganz nah. Sie vereinigten sich zu einer dauerhaft festen Bindung, der Peptidbindung. Die Kette wuchs. Nach Abspaltung der Schutzgruppe und der Freisetzung der endständigen Aminogruppe suchte sich diese wiederum einen vom Experimentator vorherbestimmten bindungsfähigen Partner in der Lösung, hielt ihn fest und vereinigte sich mit ihm. So bildeten sich hochspezifische langkettige, vielleicht spiralförmig verdrehte, teilweise gefaltete Strukturen heraus.
Thalheim strebte hochmolekulare Eiweißkörper an, die wichtige Lebensfunktionen ausführen können. Während er am Reaktor manipulierte, philosophierte er gedanklich. Wenn die Eiweißkörper Grundlage des Lebens seien, wenn Leben die Daseinsweise nativer Eiweißkörper sei, wie entstand dann das Leben, fragte er sich. Es gab verschiedene Erklärungsversuche, wie vor Milliarden Jahren Kohlenwasserstoffe, und daraus auch Aminosäuren entstanden, die komplizierte organische Verbindungen, so auch Proteine und Nukleinsäuren bildeten. Dies geschah besonders im Umfeld vulkanischer Ausdünstungen. Aber wie wirkten diese Stoffe zusammen und wie vermehrten sie sich? Wie entstand lebende Materie mit Stoffwechsel?
Ein Anruf holte ihn zurück in die Jetztzeit mit den gerade erlittenen Demütigungen und öffentlichen Anklagen.
„ Die Eindrücke der Kindheit wurzeln am tiefsten“
Karl Emil Franzos
Das Interesse Thalheims für naturwissenschaftliche Vorgänge, für chemische und biologische Abläufe begann bereits in der Schule.
Der Vater kam aus dem Krieg und der Gefangenschaft zurück, als seine Söhne, Ulrich und Wolfgang, bereits sportlich-athletische Schulkinder waren. Der Vater schwärmte von den Kriegserlebnissen, ein leichter Stolz über seine Mitgliedschaft in der faschistischen Partei war noch zu merken. Die Mutter war verstorben, der Vater hatte sie nicht gerettet, er hatte sie den nazistischen Schergen überlassen, die ihr das Leben nahmen, die lebensunwertes Leben vernichteten, wie die Vollstrecker es nannten.
Der Vater hatte das Werden der kleinen Persönlichkeiten, Ulrich und Wolfgang, nicht verfolgen können. Er hatte weder in den ersten Monaten und Jahren deren kleine Finger halten, die Buben auf den Arm nehmen, noch später mit ihnen das Laufen üben können. Er hatte sich nie in die kleine Seele der Heranwachsenden hineindenken müssen. Seine Kinder waren in der Fremde groß geworden. Als der Vater aus dem Krieg kam, hatten sie sich bereits ihre eigene Welt erobert. Mit den Gleichaltrigen spielten sie auf dem angrenzenden Berg Räuber und Gendarm. Sie bauten auf Bäumen mit Brettern aus abgelegenen Gärten Festungen, legten Münzen und andere Metallteile auf die Bahnschienen, die beim Darüberfahren des Zuges breit gewalzt wurden, anschließend wurden die Figuren entschlüsselt und mythisch gedeutet.
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