„Ach, was zieh ich dann an? Alle Sachen schon mal vorgeführt“, dabei hielt sie die Kleider an den Körper und drehte sich zur Raummitte.
Ulrich Thalheim ging es durch den Kopf, nach Umfragen sollen die meisten Männer am gewohnten Kleidungsstück hängen, viele zögen es vor, einen ganz bestimmten Anzug wieder anzuziehen. Anders die Frauen, sie liebten die Abwechslung, die wechselnden Farben, die wechselnde Art der Kleidung. Immer möchten sie etwas Neues, chic soll es sein und im Trend liegen. Als er seine Frau hantierend am Schrank betrachtete, philosophierte er in Gedanken, ob es ein Evolutionseinfluss oder die Einwirkung der Gesellschaft war, dass sich die Frauen immer etwas auffallend, farbenfreudig, abwechslungsreich, eben stärker modisch anzögen als die männlichen Teile der Gesellschaft. Im Tierreich gäbe es doch so viele Beispiele, bei denen die Männchen die schönsten buntesten Kleider haben und die Weibchen die Grauen seien. Ob es wohl zu Beginn des 20. Jahrhundert einfacher war, als sich namhafte Künstler um ein weitestgehend zeitloses Reformkleid bemühten? ... Aber wir wüssten ja, dass sich solche Bestrebungen nicht durchsetzten - die Mode, der Zeitgeschmack, die Gepflogenheiten änderten sich stetig und hätten ihren Einfluss auf die Kleidung.
„Gleich morgen suche ich in den Geschäften nach einem aparten Kleidchen, so gewisse Vorstellungen habe ich schon. Katja, du hast morgen zeitig Schulschluss, ich würde mich freuen, wenn du mich beraten könntest, du hast so einen besonderen Blick fürs Schöne.“
Am folgenden Tag durchsuchten Sonja und Katja mehrere Konfektionsgeschäfte in der Altstadt und Neustadt nach einem schicken Kleid. Selbst das Exquisit-Geschäft Chic konnte seinem Namen nicht gerecht werden, nichts mit chic – überall nur langweilige, uniforme Konsum-Ware.
„Stets die gleichen Farben, der gleiche Universal-Schnitt – sicherlich wird bald ganz Dresden in den gleichen Klamotten ´rumlaufen – an jeder Ecke wird man glauben, sein Ebenbild zu sehen”, sprudelte es aus Katja heraus, als beide zuhause berichteten.
„Ihr habt doch prall gefüllte Einkaufsbeutel in der Hand”, sagte Ulrich.
„Ja, wenn schon kein Kleid, dann wenigsten Wurstwaren aus dem Delikat . Auserlesen fein, lecker, eben delikat”, sagte Sonja.
„Bei uns muss keiner hungern und frieren”, spöttelte Ulrich.
Es klingelte an der Wohnungstür. Ulrich öffnete:
„Ach, die Frau Nachbarin. Gundula komm‘ herein. Wir debattieren gerade über Mode und Kleidung bei uns im Land.“
„Und wie seid ihr auf das Problem gekommen“, fragte Gundula.
„Sonja sucht ein neues, modisches Kleid, das man nicht zigfach auf der Straße wieder sieht.“
„Es sollte 'was Individuelles sein, ich habe die Geschäfte abgeklappert . Kleider aus synthetischem Präsent 20 haben sie mir gezeigt. Alles gleicher Schnitt, unterschiedslos, nichts zum Ausgehen. Ja schön bunt, aber dieses Chemiefaser-Gewirk lädt sich auf, haftet dann an den Beinen und…man schwitzt darin.“
„Ja, ja, ich weiß schon, Menge und Planvorgaben stehen im Vordergrund, Kleidung wird als Gebrauchsgegenstand gesehen, Ästhetik wird kaum beachtet“, sagte Gundula.
„Die großen Betriebe produzieren nur uniformierte Kleider. Alles langweilig, eintönig, Einheitslook, alles nach einer Vorlage, da brauchen sie wenig Entwürfe, macht es billig“, empörte sich Sonja.
„Für die konsumbedürftige Bevölkerung wird es reichen. Unsere werktätigen Frauen sollen sich auf Arbeit und daheim zweckmäßig kleiden und nicht elitär, nicht herausgehoben“, sagte ketzerisch Ulrich.
„Also nicht modisch?“, fragte Sonja.
„Schon der große Führer Mao wollte in China Missgunst zwischen den Menschen unterbinden“, setzte Ulrich dozierend fort. Er bot allen Wasser an, trank einige Schlucke und setzte spitz fort.
„Nun, Mode hat mit Auserlesenem zu tun – das widerspricht aber dem Konformismus im Lande, alle sollen ein angepasstes Verhalten in der Gesellschaft zeigen“, setzte spitz Ulrich fort.
„Aber Ulrich, du lockst ja heute den bissigen Stachel“, sagte Gundula.
„Ich verteidige meine Meinung, Kleidung soll nicht nur den Körper bedecken und vor Außenwelteinflüssen schützen. Mit der Kleidung wollen wir Frauen auch eine ästhetische Aussage treffen,...ein Lebensgefühl ausdrücken…eine Stimmung vermitteln“, sagte Sonja energisch.
„Genau, nachvollziehbar. Als Frau will man sich von anderen unterscheiden, man will sich von anderen absetzen“, sagte Gundula.
„Ihr Frauen wollt euch von der Masse abheben, ihr möchtet euch abgrenzen - individuelle, seltene Sachen tragen?“, bohrte Ulrich mit einem Unterton.
„Genau, ich will mit einem modischen Kleid meine Persönlichkeit unterstreichen. Verlange ich da zu viel?“, erregte sich Sonja.
„Aber der Haken ist doch – so etwas geht nicht in die Köpfe der überalterten Obrigkeit rein“, stellte Gundula fest, „das passt nicht in das begrenzte Weltbild dieser Obrigkeit. Das ist nicht mit dem Kollektivismus zu vereinbaren. Individuelle Interessen werden als bürgerlich abgetan und gelten als egoistisch.“
„Hat es nun Mao in China mit der Einheitskleidung richtig gemacht? Westliche Anzüge und moderne Frauenkleider wurden als bürgerlich gebrandmarkt. So kam es zum normierten blauen Mao-Anzug für die Männer, ist dies nun erstrebenswert?“, fragte rhetorisch Ulrich.
„Bei unseren staatlich verordneten Freunden in der Sojus tragen die Schüler Schuluniformen” , sagte Gundula.
„In der von privatem Unternehmertum befreiten Gesellschaft soll es also keinen Neid geben, damit niemand den anderen ausstechen kann“, sagte Ulrich etwas gehässig.
„Und der Einzelne mit seinen persönlichen Interessen soll sich den gesellschaftlichen Verhältnissen unterordnen und in diesen entwickeln? Hab ich richtig interpretiert?“, fragte Gundula.
„Wo bleibt da die Individualität?“, stellte Sonja die Frage.
„Aber in der Modezeitschrift Sibylle sieht man doch so schöne Kleider“, mischte sich Katja ein.
„Das mag schon sein, aber diese Kleider gibt es nicht zu kaufen, sie werden nicht produziert“, erwiderte Ulrich.
„Ich werde mir meine Kleider selbst nähen, da kann ich selbst modisch gestalten, Schnittmuster kann man kaufen“, meinte Katja.
„Eigentlich gibt es in unserer verkrusteten Textilindustrie keine Mode, es mangelt an Stoffen, an Ideen,…internationale Trends werden nicht umgesetzt“, stellte Ulrich fest, „und ich habe gehört, jeder Modevorschlag muss in der Frauenkommission der obersten Leitung der Bürokratie begutachtet werden.“
„Es macht Spaß, mit euch zu debattieren“, stellte Gundula fest, „aber nun will ich meinen Kuchen backen. Könnt ihr mir mit drei Eiern aushelfen?“
„Aber natürlich“, und Sonja ging zum Kühlschrank.
Alle verabschiedeten sich.
Sonja ging es durch den Kopf, wie komme ich zu einem modischen Kleid?
9. - Jahrzehnte zurück - Vorstudienanstalt
„ Ein Mensch ohne Bildung ist ein Spiegel ohne Politur“ Sprichwort
Nach der Lehre besuchte Ulrich dreimal die Woche nach der regulären Arbeit die Abendoberschule und erreichte so – auf dem Zweiten Bildungsweg - den Abschluss der Mittleren Reife. Später wurde er von seinem Betrieb als förderungswürdiger Arbeiter zu der Vorstudienanstalt - Arbeiter-und-Bauern-Fakultät - ABF– delegiert . Er wollte Pharmazie studieren. Da ihm die Hochschulreife, also das Abitur fehlte, konnte er dies in einem Sonderlehrgang an der Universität nachholen. Der Betrieb befürwortete das Studium, er solle später zur neuen sozialistischen Intelligenz gehören, die sich aus der Arbeiterklasse reproduziere, wie die Führung ganz oben behauptete.
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