»Ich warne Sie ein letztes Mal, bleiben Sie sofort stehen.«
Er stand nur noch ein paar Meter hinter dem Mann, und dieses Mal zögerte der.
»Seien Sie vernünftig. Drehen Sie sich um.«
Mit dem letzten Schritt auf die Leiter zu, vollführte der Mann eine schnelle Drehung. Der Kerl versuchte, das Geländer zu greifen und sich dann einige Sprossen hinunterrutschen zu lassen, um in Deckung zu gelangen. Doch er griff daneben.
Eine Sekunde schien der Flüchtige in der Luft zu hängen, mit einem überraschten Ausdruck auf dem Gesicht. Ein Fuß auf der Leiter, der andere in der Leere, und kein fester Halt, der seinen Sturz hätte aufhalten können. Als der Polizist die Feuerleiter erreichte, war der Mann bereits auf dem welligen Kopfsteinpflaster des Klinikhofes aufgeschlagen. Fast lautlos.
Fünf Minuten später war der Vorplatz voller Angestellter des Krankenhauses. Noch einmal fünf Minuten vergingen, bis die örtliche Polizeidienststelle ihren Wachtmeister geschickt hatte. Nach einem Moment des Zögerns hatte Keller das Dach durch das Treppenhaus des Anbaus – in dem es tatsächlich einen Lastenaufzug gab – verlassen und nicht den schnellsten Weg, die Leiter, genommen. Nun stand er in einiger Entfernung zu den Schaulustigen im Hof. Er hatte dafür gesorgt, dass einer der Ärzte den Tod feststellte und danach alle einen sicheren Abstand zu dem Toten hielten. Aber das hier war kein Tatort eines Verbrechens, und die Frage des Unfallherganges konnte jederzeit geklärt werden.
Die Durchsuchung des Toten hatte ihm keinerlei Hinweise auf dessen Identität oder eine Beziehung zu der Klinik gegeben. Keller hielt es nicht für notwendig, den Hof zu räumen.
»Mein Name ist Auerswald. Sind Sie Oberleutnant Keller aus Leipzig?« Ein Uniformierter Anfang dreißig, mit Tassel im Schlepptau, näherte sich ihm.
Keller nickte. Er zog seine Dienstmarke und sah Erleichterung auf dem Gesicht des Obermeisters. »Na, dann ist das ja alles kein Problem mit Ihrer Aussage bezüglich des Unfallherganges. Wie ich meine...« Der Polizist geriet offensichtlich ins Trudeln.
»Genosse Obermeister, Sie sollten einen Leichenwagen für die Überstellung des Toten nach Döbeln in die Poliklinik anfordern. Außerdem dem dortigen VPKA Meldung machen, dass es hier im Verlauf einer Ermittlung der Leipziger K einen tödlichen Unfall gegeben hat. Ich werde mich bei den Kollegen in Döbeln bezüglich meines Berichts schnellstmöglich melden.«
Auerswald nickte gewichtig und eilte davon. Tassel blieb neben Keller stehen und schaute mit einem gequälten Gesichtsausdruck auf den Toten auf dem Pflaster.
»Es hat wohl keinen Sinn, dass ich Sie frage, wer das ist und was er in den Räumen des Ermordeten zu suchen hatte?« Wie der Polizist befürchtet hatte, zeigte der Pfleger keinerlei Reaktion. »Nun gut, Herr Tassel, ich brauche einen Fernsprecher.«
Es brauchte fast eine Viertelstunde, bis Keller die Privatnummer der Döbelner Rechtsmedizinerin in Erfahrung gebracht hatte.
»Moreaux.«
»Keller. Guten Abend, Frau Doktor. Entschuldigen Sie bitte die späte Störung, aber es ist sehr wichtig.«
»Oh, Genosse Keller...«, die Medizinerin klang verlegen. »Hören Sie, Herr Oberleutnant, ich weiß, ich hatte Ihnen einen vorläufigen Bericht für heute versprochen. Leider bin ich noch gar nicht dazu gekommen, meine Aufzeichnungen–«
»Sie brauchen sich wirklich nicht zu rechtfertigen, Doktor. Wenn Sie wüssten, wie viel Zeit sich unsere Pathologen manchmal nehmen. Ich habe eine große Bitte. Ich weiß, dass Sie das nicht hauptberuflich machen, nur weiß ich im Augenblick nicht, an wen ich mich wenden soll. Und es ist äußerst dringend.«
Moreaux schien geschmeichelt. »Es geht um die Obduktion von Heise, nehme ich an, Herr Kommissar? Treffen wir uns am Haupteingang der Klinik. Das ist Block C. Liegt, glaube ich, am Steinhausener Weg. Auf jeden Fall kommen Sie da raus, wenn Sie der Beschilderung zum Krankenhaus folgen.«
»Bin in zwanzig Minuten da, Doktor.« Welch ein Glück, dass es noch Leute gibt, die ihren Feierabend der Wahrheitsfindung opfern, dachte Keller überrascht.
Die Leichenhalle lag ein ganzes Stück vom Haupteingang der Poliklinik entfernt. Während Moreaux ihn durch die verwinkelten Gänge des Untergeschosses führte, kam Keller auf den Grund für seine Eile zu sprechen. Es fiel ihm schwer, den richtigen Anfang zu finden, aber er wusste, dass er der engagierten Ärztin eine Erklärung und etwas Ehrlichkeit schuldete.
»Sie können mir glauben, Doktor. Wenn es nicht einen guten Grund gäbe, hätte ich Sie nicht so spät rausgeklingelt«, setzte er an.
»Davon bin ich überzeugt. Vielleicht bin ich neugierig geworden. Jetzt erzählen Sie schon, Kommissar.«
»Tja, wo anfangen...« Keller nahm seine Schiebermütze ab und fuhr sich über die müden Augen. »Also. Das ist alles komplizierter und verzwickter, als es sich auf den ersten Blick dargestellt hat. Anfangs sah es so aus, als ob ein Irrer in einem Anfall seinen Arzt umgebracht hätte. Ganz so einfach scheint es nicht zu sein.«
Moreaux blickte den Polizisten fragend an. »Sie vermuten, es war ganz anders?«
»Ich will's kurz machen, Doktor. Ich glaube, an diesem Fall stinkt einiges gewaltig, eigentlich alles.«
»Sie haben meine vollkommene Aufmerksamkeit.«
»Ich muss eines vorwegschicken.« Keller zögerte. Wie sollte er der unfreiwillig zum Gerichtsmediziner ernannten Ärztin klar machen, dass er sie zum Mitwisser in einer nicht ganz regulären Mordermittlung machen wollte – gewissermaßen zu einer Mitverschwörerin? »Sie sind die Einzige, der ich zurzeit vertraue«, gab er unumwunden zu, »und ich will Ihnen auch sagen, warum. Sie haben keine Interessen in dieser Angelegenheit – höchstens, dass es keine weiteren Toten gibt, mit denen Sie sich beschäftigen müssen. Und da stehen wir auf derselben Seite.«
Die Ärztin verlangsamte ihren Schritt und blickte nachdenklich zu Boden. Offenbar wurde ihr allmählich klar, in welche Richtung sich das entwickelte.
»Bitte, Doktor. Ich muss mich darauf verlassen, dass Sie im Augenblick niemandem gegenüber erwähnen, was ich Ihnen nun anvertrauen werde. Auch Einzelheiten bezüglich Ihrer Leichenbeschau sollten Sie bitte für sich behalten.«
»Sie wissen, was Sie da von mir verlangen, Oberleutnant?« Moreaux schien sich plötzlich nicht mehr besonders wohl in der Rolle der Amateurdetektivin zu fühlen.
»Sie sollen ja nicht lügen, Doktor, nur eben nicht alles vorschnell und zu ausführlich in Ihrem Bericht niederschreiben. Genau genommen haben meine Überlegungen auch gar nichts mit dem offiziellen Obduktionsbericht zu tun.«
Moreauxs Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Sie war nun stehengeblieben und sah Keller geradeheraus an. »Würden Sie zur Sache kommen, Oberleutnant?«
Keller seufzte. »Es scheint, als hätte jemand größtes Interesse daran, dass in der Tötungssache Heise keine Fragen gestellt werden. Keiner weiß, wer Kaltenbrunn eigentlich ist, jedenfalls geben das alle vor. Ein Mann dieses Namens hat anscheinend in der Deutschen Demokratischen Republik niemals ein wissenschaftliches Studium absolviert oder promoviert – und niemand scheint das komisch zu finden. Außer mir. Zweitens: Wieso hat sich der in Fachkreisen so bekannte Professor Doktor Wolfgang Heise ausgerechnet um diesen Allerwelts-Gedächtnisgestörten so innig gekümmert? Dieser Doktor Kaltenbrunn ist noch nicht einmal im Gebäudetrakt für gefährliche oder gewalttätige Patienten untergebracht. Offensichtlich hat man es nicht für möglich gehalten, dass es zu so einer Tat kommen könnte. Das wirft nebenbei die Frage auf, wie gut es um die diagnostische Kompetenz dieses Irrenhauses bestellt ist.« Der Oberleutnant konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Und drittens: Wieso möchte eigentlich jeder, dass ich aufhöre, diese Fragen zu stellen? Sogar mein Chef hat mir nahegelegt, bald einen Deckel auf die Sache zu machen.« Keller überlegte kurz. Er konnte auch den jüngsten, tödlichen Zwischenfall in der Klinik nicht unerwähnt lassen, denn er hatte Anweisung gegeben, den Dachstürzer ebenfalls zu Doktor Moreaux bringen zu lassen – trotzdem fiel es ihm nun schwer, davon zu erzählen. Schließlich fasste er die Ereignisse knapp in drei Sätzen zusammen und endete mit: »Und spätestens jetzt können wir wohl ausschließen, dass ich einfach nur paranoid bin. Irgendjemand versucht hier, die Aufklärung zu verhindern.«
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