Irgendwann war es vorbei. Man verabschiedete sich, betonte, alsbald wieder zusammenzukommen und ging seiner Wege. Ich bedankte mich und mit einer Verbeugung verschwand ich direkt ins Bett, denn ich war hundemüde.
Der folgende Tag war ein Sonntag und ich erwachte durch laute Geräusche auf dem Hof. Ich trat ans Fenster und sah, wie die Gräfin gerade ihre Söhne in eine Kutsche drängte, selbst einstieg und fortfuhr. Wahrscheinlich ging es in die Kirche, die im Dorf auf einer Anhöhe lag. Mich hatte man schlafen lassen, zweifellos weil man nicht wusste, was ein Reformierter an einem Sonntag so tat und es auch nicht wissen wollte. Tatsächlich hatte ich tief und traumlos geschlafen und da der Unterricht erst am nächsten Tag beginnen sollte, überlegte ich, ob ich mich wieder ins Bett legen sollte. Aber was würde die Gräfin vom Hauslehrer ihrer Kinder denken, wenn dieser nach ihrer Rückkehr vom Kirchgang noch immer im Bett lag. Zudem war ich ausgeschlafen und unternehmungslustig. So unternahm ich es, das Schloss, die Gärten und das umliegende Gelände zu erkunden. Immerhin würde ich hier das ganze folgende Jahr verbringen.
Das erste, was ich bei meinem morgendlichen Spaziergang entdeckte, war eine recht imposante, neu gebaute Orangerie auf der östlichen Seite des Schlosses. Ich muss zugeben, dass ich solch' ein Pflanzhaus hier nicht erwartet hatte. Bedurfte der Betrieb doch zumindest eines erfahrenen wenn nicht sogar gelehrten Gärtners. Aber vielleicht war die Gärtnerei ein Steckenpferd des verstorbenen Grafen gewesen. Ich schaute durch die bodentiefen von innen beschlagenen Fenster, konnte aber außer reichlich Grün und einigen roten Farbtupfen, die sicherlich Blüten waren, nicht viel erkennen. Anscheinend wurde das Gebäude weiter benutzt. Ich nahm mir vor, die Gräfin danach zu fragen.
Anschließend schlenderte ich über den Hof, überquerte die Brücke hinüber zu den Wirtschaftsgebäuden, die westlich von der kleine Allee lagen. Hin und wieder begegneten mir Bedienstete der Gräfin, die mit einer kurzen Verbeugung oder einem Knicks grüßten. Dann stand ich auf dem angegliederten Gutshof, der ein halbes Karree bildete und mit Speichern, Scheunen und Remisen bestanden war. Dazu erkannte ich eine Schmiede, ein Backhaus und eine weitere Unterkunft für das Gesinde. Insgesamt waren wohl aufgrund des Sonntages nur wenige Leute zu sehen, aber schon morgen würde es hier vor emsiger Tätigkeit surren, wie in einem Bienenstock im Frühjahr. Ich schritt langsam voran, denn ich hoffte den Durchgang zum dahinterliegenden Park zu finden. Das entpuppte sich aber schwieriger als erwartet, denn immer wieder stieß ich auf eine übermannshohe Hecke, die den Park umschloss und die zumindest an dieser Stelle keinen Durchgang zu haben schien. Ernüchtert wollte ich mich auf den Rückweg machen, als ich durch die offene Tür eines zweistöckigen Speichers ein überaus seltsames Objekt gewahrte. Ich trat näher und erschrak.
Eine grässliche Fratze grinste mich an. Eine Fratze, die aus einem Holzstamm heraus gearbeitet und etwa beinlang war. Oben hatte man anscheinend Rosshaar als Haar in den Klotz gesteckt, darunter blickten rot bemalte starrende Augen über einem wie zum Fraße aufgerissenem Maul voller schmutzig schauriger Reißzähne. Mein lieber S., du erinnerst dich sicherlich, dass wir einmal eine Ausstellung in Berlin besuchten, in der die Seeleute, die für den König in Afrika Handel trieben, einige fremdartige Artefakte von diesem Kontinent ausgestellt hatten. Und du erinnerst dich sicherlich auch daran, wie befremdlich ihr Anblick gewesen war. Nun, ungefähr die gleichen Gefühle bestürmten mich in diesem Augenblick, denn diese Figur war sicherlich nicht aus unseren Breiten, sondern hierher gebracht worden. Wie ein stummer bösartiger Wächter stand sie am Fuße einer dunklen Stiege, die hinauf in das erste Stockwerk führte und vor einer Tür endete. Neugierig geworden, fragte ich mich, was wohl dort oben auf dem Speicher verborgen war und kletterte die engen Stufen hinauf. Kein Schloss hing an der Türe und kurz scholt' ich mich ob meiner Unverfrorenheit, denn eigentlich hatte ich kein Recht, in fremde Zimmer und Kammern zu schauen. Aber was soll ich dir sagen? Meine Neugier war größer. Als ich die Tür langsam aufschob, hoffte ich inständig, dass ich nicht einer überrascht kreischenden, halbnackten Magd auf einem Nachttopf ansichtig würde.
Gottseidank geschah nichts dergleichen. Vor mir öffnete sich ein von staubigen Sonnenstrahlen erhellter Raum voller, ich kann es nicht anders beschreiben, wunderbarer Dinge. Zuerst Kisten mit Büchern erlesensten Inhalts, allerdings wenig geordnet und wie mir schien, ohne Liebe hinein geworfen. Da schlief Descartes' Discours de la méthode neben Schriften des Horaz; Newton neben Lukrez; das Halkyon klemmte zwischen Büchern über die Kunst des Festungsbaus, und Abhandlungen zur Navigation lehnten an Folianten, welche Botanik zum Thema hatten. Wolff und Pufendorf schlummerten auf den Schriften mittelalterlicher Kanoniker und Kirchenlehrer. Welch Frevel! Sogar ein Foliant des Andreas Vesalius ruhte an einer der Kisten. Kurz gesagt, ein fürchterliches, aber dennoch abenteuerliches Durcheinander. Doch nicht nur Bücher entdeckte ich. An den Wänden waren Regale aufgereiht und darin befanden sich unzählige Gläser, gefüllt mit einer trüben gelblichen Flüssigkeit, die sich bei näherer Betrachtung als eine Legion in Alkohol eingelegter exotischer Tiere und Pflanzen, und nicht minder zahlreicher Exponate mir völlig unbekannter Lebewesen darstellten. Dazu stieß ich mit meinen Füßen an Bilder und Aquarelle, die auf ganz natürliche Art Landschaften, Tiere, Pflanzen und Menschen einer weit entfernten Welt darstellten. Weiter eine Batterie eingerollter Landkarten ferner Länder und Küsten. Auch erkannte ich überall im Raum verteilt primitive Gebrauchsgegenstände fremder Art, deren Funktion mir oft nicht ersichtlich war. Ebenso einige hölzerne Figuren und Statuetten ebensolcher Machart wie jene unten am Eingang zu dieser Kammer.
Ich war wie erschlagen. Ja überwältigt! Nichts hatte ich erwartet außer ermüdender Lehrtätigkeit und nun dies! Ein Universum! Alles, was ich in diesem Raum sah, roch und berührte, atmete die Aura des Fremdartigen, des Unbekannten, den Geruch der Reise und des Abenteuers. Ganz ohne Zweifel war dies alles die Ernte einer langen Expedition. Einer sicherlich sehr erfolgreichen Expedition. Aber warum hatte die gelehrte Welt, zu der ich mich ganz bestimmt zähle, noch nie etwas von diesen Kuriositäten gehört? Warum ist dieses Monstrositätenkabinett nicht den gebildeten Kreisen zugänglich gemacht und von ihnen begutachtet, gezählt und geordnet worden? Warum solch' eine Verschwendung?
Ich weiß nicht, wie lange ich in der Kammer verbracht hatte, als ich vom Eingang her ein leises Rascheln vernahm. Ich drehte mich um und sah für einen kurzen Augenblick eine schlanke Gestalt im Türrahmen, die sich sofort meines Blickes entzog. Ich rollte die Karte, die ich gerade beschaut hatte, zusammen und ging langsam auf die Tür zu.
„Ich habe dich gesehen, mein Kind“, sagte ich, „du kannst dich mir zeigen. Nichts wird dir geschehen!“
Die Gestalt schob sich langsam mit gesenktem Kopf in den Türrahmen. Es war ein Mädchen. Angetan mit einem groben blauen Kleid und weißer Schürze. Fünfzehn, sechzehn Jahre, mochte sie vielleicht alt sein. Sie trug einen langen blonden Zopf unter einem weißen Häubchen, und als ich mit zwei Fingern ihr Kinn anhob, schaute ich in klare blaue Augen, unter denen gerötete Wangen glühten. Die Frage kam mir in den Sinn, wer hier wen ertappt hatte.
Ich fragte sie nach ihrem Namen: „Elisabeth“, antwortete sie schüchtern.
„Elisabeth, du arbeitest hier im Schloss?“
„Ja, mein Herr. Im Stall. Mit meinen Eltern und Brüdern. Wir wohnen hier.“
„Warum bist du nicht in der Kirche?“
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