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Pytlik und Hermann saßen zusammen mit Lisa Strehmel in einem Einsatzbus der Schutzpolizei. Die Coburger Kollegen der Spurensicherung waren gerade angekommen und hatten die wichtigsten Informationen abgeholt, bevor sie sich an die Arbeit machten. Pytlik hatte sie gleich vorgewarnt, dass er die Leiche sozusagen schon geöffnet hatte.
In Anwesenheit der Staatsanwältin mochten die „Weißkittel“, wie Pytlik sie nannte, nicht murren, was sie sonst in solchen Fällen aber gerne und ausgiebig taten. Für Pytlik jedes Mal aufs Neue ein leidiges Thema. Er telefonierte noch kurz mit dem Hotelmanager des Waldhotels „Goldenes Reh“, um ihm mitzuteilen, dass etwas dazwischengekommen war und er sich wieder bei ihm melden würde.
„... ja, Herr von Mainegg. Wir werden die Ermittlungen in Ihrem Hotel so bald wie möglich abschließen. Dennoch müssen einige Punkte noch einmal geklärt werden. Das verstehen Sie sicherlich. Ich werde mich am Montag bei Ihnen melden. Bitte halten Sie sich zur Verfügung! - Ja, selbstverständlich. Geht in Ordnung. Schönen Tag noch, Herr von Mainegg.“
„Arschloch!“ Pytlik zischte den Fluch kurz und bündig, nachdem er aufgelegt hatte.
„Macht er Probleme?“, wollte Lisa Strehmel wissen. Sie hatte bereits unmittelbar nach den ersten Spurensicherungen im Fall der ermordeten Russin zwei Tage zuvor mit Pytlik gesprochen. Dem Hotelchef, Armin von Mainegg, schien die Tatsache, dass in seinem weithin bekannten Fünf-Sterne-Haus eine Frau umgebracht worden war, weder sonderlich zu passen, noch hatte er Verständnis dafür, dass die Kripo ihren Job so gut wie möglich erledigen wollte.
„Keine Probleme“, brummte Pytlik, der Lydia parallel noch eine SMS schickte, um in Ruhe an die Arbeit gehen zu können.
&xnbsp;„Was denken Sie? Ich meine, für Sie ist das im Moment sicherlich eh noch ein bisschen unglaublich, auch wegen der Geschichte mit Ihrer...“
Strehmel setzte einen neugierigen Blick auf und fuhr fort. „... Lebensgefährtin?“
Pytlik musterte Strehmel mit einem durchdringenden Blick. Warum hatte sie das getan? Ohne Not! Warum wollte Strehmel ausgerechnet jetzt eine Art definitives Bekenntnis zu Lydia von ihm haben? Spielte sie mit ihm? Oder war es gar nicht böse gemeint und er redete sich einfach zu viel ein?
„Meiner Freundin geht es gut soweit. Ich wüsste nicht, was sie damit zu tun hat. Und ich bin fit. Punkt!“
Für einen Moment herrschte Schweigen.
Hermann machte eine Pseudo-Notiz, Strehmel fuhr fort.
„Gut, dann noch mal: Kann das Zufall sein? Also, ich meine nicht unbedingt, dass ausgerechnet heute, als Sie hier joggen und in einem anderen Mordfall ermitteln, eine neue Leiche genau vor Ihrer Nase auftaucht. Ich meine vielmehr, ob die beiden Leichen generell etwas miteinander zu tun haben könnten. Was glauben Sie?“
„Hm!“ Pytlik massierte mit Daumen und Zeigefinger sein Kinn und schaute nachdenklich auf den Boden. Dann hob er den Blick.
&xnbsp;„Das ist kein Zufall! Nicht heute und nicht generell. Ich weiß noch nicht wie, aber ich glaube, die beiden Leichen haben tatsächlich etwas miteinander zu tun.“
„Was macht Sie so sicher?“ Lisa Strehmel nutzte die Gelegenheit. Sie wusste, wenn Pytliks Gedanken erst einmal losgelassen waren, konnte er wichtige Anhaltspunkte oder auch nur vage, subjektive Vermutungen gut miteinander verknüpfen.
„Mein Gefühl macht mich so sicher. Cajo, haben wir im Moment Vermisstenmeldungen? Kann auch schon ein paar Monate zurückliegen, so wie die Leiche aussah.“
Hermann tat etwas überrascht. „Äh, nicht, dass ich jetzt wüsste. Aber das prüfen wir.“
„Gut“, erhob sich Pytlik duckend von seinem Sitz. „Ich habe für heute genug vom Ölschnitzsee. Frau Strehmel, ich würde die Presse gerne erst am Montagvormittag informieren.“
„Kann ich verstehen! Ich werde mich darum kümmern. Und dass Sie bis Montag einen Bericht von der Rechtsmedizin bekommen.“
„Danke Ihnen. Ach, Sie bleiben noch oder...“
„Nein, ich wollte jetzt eigentlich auch los.“
„Könnten Sie mich vielleicht bis zum Schützenhaus in Steinbach mitnehmen? Das wäre nett.“
„Gerne.“
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Kurz vor achtzehn Uhr klingelte es an Pytliks Haustür zum dritten Mal innerhalb weniger Minuten. Pierre Lehner, ein Kommissar aus Coburg, stand mit den Händen in der Jackentasche und von einem auf den anderen Fuß wippend, auf der Treppe.
In Fällen wie diesem bekamen die Kronacher meist Unterstützung von der benachbarten Kripo aus der Vestestadt. Pytlik hätte ihn weniger gut gelaunt erwartet. Schließlich war es trotz der Dringlichkeit der aktuellen Ereignisse immerhin Samstagabend. Dennoch wollte der Hauptkommissar so gut wie möglich vorbereitet in die neue Woche gehen. Jeder sollte am Montag wissen, was in der Doppelermittlung zu den beiden Leichen zu tun wäre.
„Hallo Pierre! Tja, blöd gelaufen, aber...“
„Schon gut, Herr Pytlik. Hatte eh nichts vor. Meine Freundin hat heut’ Mädelsabend.“
„Kommen Sie rein!“
Nach einem kurzen Handschlag legte Lehner seine Jacke ab und ging direkt ins Wohnzimmer, wo Hermann und Büttner bereits in ein intensives Gespräch verwickelt waren.
Diesmal, anders als meistens, schien es allerdings sehr konstruktiv zu verlaufen. Akten und Fotos lagen auf dem Wohnzimmertisch verteilt. Frisch eingeschenktes Bier vermittelte den Eindruck dessen, was hier stattfand. Pytlik hatte darum gebeten, die Sitzung bei ihm zuhause durchzuführen.
Die Vereinbarkeit mit Bier und Brotzeit wäre somit kein Problem und außerdem hätte die Wochenendarbeit im mit Folien verhängten und Gerüsten zugebauten „Präsidium“ nicht wirklich motiviert.
Nachdem sich Lehner, Hermann und Büttner kurz begrüßt hatten und Pytlik noch ein paar belegte Semmeln auf den Tisch gestellt hatte, eröffnete er die Runde.
„Gut, es ist nun mal, wie es ist. Wir haben zwei Leichen und so wie es aussieht, auch zwei Morde. Wir müssen jetzt versuchen, alles, was wir bisher wissen, so aufzubereiten, dass wir am Montag mit Hochdruck an die Arbeit gehen können. Fangen wir mit der Russin an. Cajo?“
Hermann räumte ein paar Fotos vom Tatort im Waldhotel ‚Goldenes Reh’ zur Seite, um freien Blick auf einen DIN A4 Block zu haben, auf dem er sich die wichtigsten bisherigen Ermittlungserkenntnisse notiert hatte.
„Na gut, die Russin also. Maria Antonowa, alias Maria Brolin, geboren 1961 in Moskau, zuletzt wohnhaft in Dresden. Wenn man davon ausgehen kann, dass sie so, wie sie gefunden wurde - nämlich blond - ihrer eigentlichen Identität entspricht, war sie laut Personalausweis die Antonowa. Und so war sie im Hotel auch eingecheckt. Wir haben allerdings noch einen anderen Ausweis gefunden, der sie mit brünetten Haaren zeigt. Maria Brolin heißt sie da, gleiches Baujahr, geboren in Dresden. Die Perücke wurde übrigens auch im Zimmer gefunden.“
„Scheiße, dess hodd unners grohd nuch gfehld!“
Justus Büttner wurde von Pytlik bei Ermittlungen in Kapitalverbrechen immer von Anfang an mit einbezogen.
Er war der Meinung, dass der Leiter der Schutzpolizei über den Ermittlungsstand genauso informiert sein sollte, wie die Kripobeamten. Seine oftmals ungefilterten Kommentare sorgten in der Regel für Schmunzeln.
„Weiter!“ Pytlik war hoch konzentriert.
„Die Hotelangestellten sagen aus, dass die Antonowa seit dem 23. Februar Gast im ‚Goldenen Reh’ war. Außerdem konnten einige Angestellte bestätigen, dass eine Maria Brolin seit dem Jahr 2001 insgesamt sechs Mal jeweils mehrere Wochen in dem Hotel verbrachte. Ich hab’ mal im Internet recherchiert und siehe da: Maria Brolin ist - oder besser: war - alleinige Geschäftsführerin der ‚BroCon’, was soviel heißt wie Brolin Consultancy.“
„Und woss is dess?“, wollte Büttner wissen, aber auch Pytlik schien froh darüber zu sein, dass Lehner wie aus der Pistole geschossen antwortete.
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