Da kommt ihre Hand neben ihrem Kopf zum Vorschein und mit lockerer Handbewegung macht sie dem Direktor deutlich, den Raum zu verlassen.
„Sehr wohl, Madame Souhette. Einen schönen Abend noch!“
Mit einem verlegenen, ratlosen und zugleich fordernden Ausdruck sieht er den Inspektor an, der gerade mit einer Selbstverständlichkeit sein Jackett und seinen Hut an den hölzernen Kleiderständer neben dem Eingang hängt. Und im nächsten Moment schließt sich die Türe und der Inspektor weilt einige Momente in ratlosem Schweigen. Mit schnellen Blicken tastet Boureni das kleine Zimmer ab. Eine kleine Garderobe mit einem Schminktisch, einem Schrank und einem kleinen Waschbecken zum Frischmachen steht darin. Da wendet sich die Madame auf dem Drehstuhl in Bourenis Richtung und blickt mit einem sichtlich genervten Ausdruck in sein Gesicht.
Ihre Züge sind zart und lassen nichts von der Härte ihrer Art erahnen. Das Kleid ist weit ausgeschnitten und lockt den Blick eines jeden Mannes. Die üppige und dicke Maske klebt noch an ihren Wangen. Ein paar wenige Falten lassen die vergangenen Anstrengungen erahnen.
„Inspektor, nun tun Sie Ihre Pflicht! Ich habe nicht ewig Zeit!“, gibt sie in forderndem Ton zu verstehen.
„Sehr wohl, Madame! Ich habe einige Fragen an Sie! Haben Sie etwas Verdächtiges während der Vorstellung bemerkt?“
Müde belächelt sie seine Frage und gibt zur Antwort: „Inspektor, Sie haben wohl noch nicht begriffen, wie Oper funktioniert!“
Leicht neigt er seinen Kopf zur Seite und setzt den Stift schreibbereit an seinen Notizblock.
„Na gut“, fährt sie in ihrem fremdartigen Akzent fort. „Wenn ich auf der Bühne stehe, verspüre ich die Blicke nicht. Niemand sonst ist in diesem Raum, außer ich, Inspektor. Verstehen Sie? Oper ist nicht das Erzählen von Geschichten, wie es Großmütter vor dem Einschlafen tun. Oper ist das Leben von Geschichten. Oper ist das Fühlen der Liebe und der Verzweiflung. Was glauben Sie, was ich gesehen habe, außer den Tod, wie wir alle? Ob heute oder morgen, es trifft uns alle! Ob früher oder später, es macht am Ende doch keinen Unterschied.“
„Das sehe ich anders, Madame. Ganz und gar! Haben Sie den Baron gekannt?“
„Nein, ich kannte ihn nicht.“
„Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf“, drängt ihn seine Neugierde zu fragen.
„Aus Prag, der goldenen Stadt. Man nennt mich daher auch die Frau mit der goldenen Stimme“, antwortet sie mit stolzer Einbildung.
„Wo hielten Sie sich in den Pausen auf?“
„Inspektor“, sagt sie lachend. „Sie stellen doch kein Verhör mit mir an? Ich war hier in meiner Loge und habe meine Nerven beruhigt.“
„Womit?“, fragt er.
„Mit Stille, Inspektor. Stille ist die Nahrung der Seele. Das sollten Sie auch einmal probieren.“
„Ich habe keine Zeit dafür, ich habe einen Mordfall aufzuklären!“
„Mord?“, fragt sie entrüstet nach.
„Sehr wohl, Madame Souhette!“
Einen kurzen Moment hält sie inne und legt ihr Kinn an ihre Brust.
„Nun ja, das wird es wohl gewesen sein“, drängt der Inspektor zum Abschied hin.
Stumm nimmt er seine Kleidung vom Ständer und wünscht ihr eine gute Nacht.
Gerade, als er die Tür hinter sich schließen möchte, ruft sie ihm nach. Er öffnet die Tür erneut und tritt wieder in den Raum.
Mit schwingender Bewegung erhebt sie sich und nähert sich ihm. Mit Hingabe stützt sie ihre Hand an der Brust des Inspektors und flüstert ihm mit verführerischem Blick zu: „Sie glauben doch nicht, dass ich es gewesen bin?!“
„Welche Veranlassung hätte ich dazu?“, gibt er verdutzt zur Antwort.
„Ich verstehe nicht, warum es ausgerechnet heute passieren musste, bei der Premiere mit all den Kritikern!“
„Machen Sie sich keinen Kopf! Wie ich hörte, waren Sie fantastisch.“
„Oft spricht die Stille schon die Antwort. Denken Sie daran, Inspektor!“
„Sehr wohl, Madame!“
„Gute Nacht, Inspektor!“, fordert sie den Inspektor zum Gehen auf, während sie wieder vor dem Spiegel Platz nimmt und ihre Aufmerksamkeit von ihm abwendet.
Stumm tritt er aus dem Raum und schließt die Türe hinter sich. Einige Momente steht er davor und runzelt die Stirn mit angezogenen Augenbrauen. Still ist es geworden. Die Gänge sind leer und die Lichter im großen Saal sind erloschen. Nur noch die grellen Bühnenlichter leuchten den letzten Arbeitern den Weg. Die Loge, in der zuvor noch der Doktor war, ist leer und versiegelt. Sie haben den Baron bereits weggebracht. Das Schweigen der Nacht legt sich erbarmend über die Stadt. Nachdenklich setzt der Inspektor seinen Hut wieder auf und tritt ins Freie, wo die kalte Frühlingsluft, die nun vom Regen rein gewaschen scheint, seine müden Sinne belebt. In rätselhafter Stille wandert er der Nacht entgegen.
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