Eisige Tränen rannen mir aus den Augen und wahnsinniger Zorn erfüllte mein Herz. Es war mühsam, hier die Beherrschung zu bewahren. Damit es mir nicht wie dem Vampir erginge, dessen Blut mich erweckt hatte, musste aber der Verstand vor dem Zorn gehen.
Als Erstes blickte ich zu meinem Vater. Es gibt für ein großes Kind keinen unangenehmeren Anblick als vollkommen entblößte Eltern. Die Wut über diese Würdelosigkeit ließ erneut Hass auflodern, doch ich zwang ihn für den Moment hinunter. Papa war voller Blut und sein Gesicht fast unkenntlich.
Oh, armer Vater! Meine Tränen mischten sich nun mit seinem Blut. Ein schauerlicher Gewimmer meines Schmerzes erfüllte das Dunkel der Grube.
Der Schmerz zeigt mir, dass tief in meinem Herzen noch Liebe war. Ich umschloss diese nun mit Groll. Sie sollte fortan unter Verschluss und ein Geheimnis bleiben.
Genauso verabschiedete ich mich von Mama, die mir dieses zweite Leben geschenkt hatte. Wie ein Baby legte ich mich auf ihre blutigen Brüste und ließ rote Tränen aus den Augen rinnen. Auch diese Gefühle umschloss ich mit Hass.
Dann nahm ich meinen Bruder, den Zarewitsch, in die Arme, so wie ich es als älteste Schwester oft getan hatte. Was hatten die Monster unserem Baby angetan? Sein Kopf war zerschossen und auch sein zartes Antlitz kaum noch zu erahnen.
Wie wunderbar erscholl einst sein Lachen.
Tatjana erschien mir fast lebendig, sodass ich immer wieder prüfte, ob sie nicht doch atmete. Sie war jedoch tot.
Keine Ratte wagte sich mehr in meine Nähe. Eine Schicht aus Mordlust und Hass umschloss nun mein Menschsein und forderte Rache.
Hätte Papa den Bolschewikenkönig Lenin und seine Helfer nur nicht ins Exil geschickt, sondern ihnen das Herz aus dem lebendigen Leib reißen lassen, wie sie es verdienten. Jetzt musste das von mir geleistet werden. Die neue Olga würde ihr Blut fordern, sie strafen, auslöschen, langsam und grausam, so wie sie es mit uns getan hatten. Hieß es nicht: Auge um Auge, Zahn um Zahn? Es war die einzige Sprache, die dieses Gesindel verstand. Schuld musste gesühnt und Böses vernichtet werden.
Die Schüsse waren inzwischen sehr laut. Die Kämpfe mussten in unmittelbarer Nähe erfolgen. Wie sollte ich vorgehen?
Von oben drang zaghaft Licht herein. Es wurde Tag. Würde ich die Sonne vertragen oder stimmten die Geschichten, die man sich erzählte? Wie kam ich hier heraus? Die Wände des Schachtes waren sehr steil.
An den Geräuschen von oben, erkannte ich, dass ein Fahrzeug heran rumpelte. Entsetzen und Panik fuhren in meine Glieder. Sie kamen zurück. Was war zu tun?
Inzwischen fühlte ich mich kraftvoller. Die Geschichten über diese besondere Medizin waren also wahr.
Ich flüchtete in das Dunkel eines Ganges, um einen Ausweg zu suchen. Neu war, dass mir das Dunkel keine Furcht einjagte. Die Welt des Lichts hatte sich als grausamer erwiesen.
Die hier lebenden Tiere fürchteten sich vor mir. Alle Wege endeten leider nach einigen Metern. Auf diese Weise gab es keine Flucht. Das Erdreich war in die schlecht gesicherten Stollen eingebrochen. Es waren eben russische, die schon so manchem fleißigen Bergmann das Leben gekostet hatten.
Stimmen drangen von oben zu mir. Jemand wurde herabgelassen. Leise schlich ich zurück.
„Sei vorsichtig!“, rief man ihm nach.
„Keine Sorge!“, scholl es leise zurück.
Die Stimme gehörte zu einem Rotgardisten aus dem Bataillon unserer Bewacher. Mein Herz pochte wild. Instinktiv spürten meine Sinne die Nähe des Feindes. Man wollte mich vollends vernichten und gewaltsam in die alles verschlingende tobende Flut drängen, der ich gerade entronnen war. Panische Angst entfesselte meinen Mut, mich aufzulehnen gegen die Bestie, die in geheimnisvollen Dunkel ihr Werk verrichtete.
Der grausame Feind bedrohte mich nun erneut. Die Auseinandersetzung auf Leben und Tod musste ich mit ihm wagen. Ich hatte doch gelernt zu kämpfen, war Kommandantin eines Reiterbataillons gewesen und zudem in asiatischer Kampfkunst geschult. Meine Wunden waren zwar tief, aber durch die Wirkung des Mittels konnte ich den Schmerz ertragen. Es hatte auch dafür gesorgt, dass ich nicht verblutete.
„Willkommen!“, dachte ich. Beschloss aber klug zu handeln. Ich musste listig sein und den Vorteil der Überraschung nutzen.
Die Zeit der Rache war gekommen. Jetzt sah ich den Mann. Das Seil hing von oben auf den Boden der Grube herunter. Sein schwitziger Geruch wehte herüber.
„Bind immer nur einen fest. Wir ziehen den Toten dann hoch!“ rief der verhasste Jurowski herunter.
Sie wollten die geschändeten Leichen wieder nach oben holen. Die Furcht, dass die Weißgardisten dieses Gebiet bald eroberten, da die Front nur noch wenige hundert Meter entfernt war, trieb sie an. Jetzt wollten sie ihr Verbrechen auf andere Weise vertuschen.
Der Soldat band meine kostbare Mutter mit den Füßen an das Seil. Ich kochte, rang aber um Beherrschung. Nur mit Besonnenheit konnte ich aus dem Gefängnis entweichen.
Wie ein Schlachttier wurde meine blutende Mutter mit den Beinen zuerst und herabhängenden, aufgelösten Haaren nach oben gezogen.
„Bekommt ihr die Schlampe hoch?“, schrie der Mann von unten.
Seine Herzlosigkeit würde ihn sein Leben kosten.
„Kein Problem“, riefen die Oberen.
Das Seil wurde wieder nach unten gelassen. Der Bolschewik hatte sich inzwischen eine Papyrus-Zigarette angezündet. Ich roch den billigen Tabak. Beim Anzünden musste ein Lichtschein bis zu mir gedrungen sein.
„Ist da wer?“, fragte der Soldat vorsichtig, sich wohl selbst Mut machend.
Erwartete der Narr, dass jemand antwortete?
„Was ist los?“
„Ich weiß nicht, ich hab da irgendetwas gesehen“, erwiderte der Soldat.
„Scheiß nicht in deine Hose, da sind Ratten unten!“
Der Rotgardist band nun Anastasia auf die gleiche würdelose Weise fest. Man zog sie nach oben. Nackt baumelte sie am Seil.
Nun musste gehandelt werden. Es konnte nämlich sein, dass die oberen Männer in ihrer hinterhältigen Manier beschlossen, sich des Zeugen hier unten zu entledigen. Den Bolschewiken konnte man alles zutrauen.
Schuldig war mein Feind genug. Seine herzlose Art zeigte, dass er längst abgestumpft war. Genug Blut klebte an seinen Fingern und verdunkelte die Seele.
Ich wollte sein Leben, hatte aber noch nie von Mann zu Mann gekämpft. Zudem verfügte ich noch nicht über meine ganze Kraft. So riet der menschliche Teil in mir zur Vorsicht, der andere zum sofortigen kaltblütigen Mord! Der Überraschungseffekt verschaffte mir einen gewissen Vorteil und die bessere Ausgangsposition.
Ich schlich mich auf leisen Sohlen von hinten an ihn heran, als er Tatjanas Leichnam vorbereitete. Ich durfte keinen Augenblick zögern.
Mein rechte Hand umklammerte seinen Mund und versuchte ihm dabei das Genick zu brechen. Er wand sich aber so vor Schreck, dass es nicht gelang.
Ich ließ die Hand auf seinem Mund und drückte nun noch mit meinem linken Arm zusätzlich den Hals ab. Es durfte kein Laut nach oben dringen, damit das Kommando dort keinen Verdacht schöpfte. Wir rangen wild und ich musste leider feststellen, dass meine Kraft noch geringer war, als ich es im Zorn vermutet hatte. Die Angst machte ihn stärker, zudem war er im Kampf erfahren. Wir wühlten inzwischen auf dem Boden miteinander. Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken, die Zeit wurde knapp. Meine Zähne gruben sich in seinen Hals, doch die Haut und die Muskeln widerstanden dem ersten Biss. Panisches Entsetzen beflügelte den Mann. Seine Gegenwehr war groß. Er riss sich, alle seine Stärke aufbietend, kurz von mir los und wollte mich fortdrängen. Aber von Neuem packte ich ihn rücklings und zerfleischte seinen Nacken mit wütenden Bissen. Ich ließ nicht nach, biss tiefer und tiefer wie ein Bullenbeißer. Blut rann warm aus seiner Wunde.
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