Von einem Moment kehrte auch das Geruchsempfinden zurück. Es war intensiv und unangenehm. Ich erkannte den metallischen Geruch von noch warmen Blut, unserem Blut! Mir wurde etwas übel, der Kopf hämmerte und ich wollte mich fast übergeben. Zum Glück geschah das nicht.
„Habt ihr auch wirklich allen Schmuck abgeliefert?“, hörte ich die misstrauischen Worte eines Mannes.
„Ich traue euch kriminellem Pack nicht!“
Es war die bekannte Stimme unseres Peinigers, des Kommandanten Jakow Michailowitsch Jurowski.
Glühender Hass floss durch meine Körper und belebte diesen zusätzlich. Voller rasender Wut hatte ich das Verlangen, ihn anzuspringen, die Zähne in sein Fleisch zu bohren und ihm gleichzeitig das Herz aus dem Leib fetzen!
Doch alle Muskeln waren noch immer versteinert und zu keiner Bewegung fähig. Dies vergrößerte mein Entsetzen.
Kalte Angst bemächtigte sich meiner. Sie wandelte sich kurz darauf in noch größere sinnlose innere Raserei. Diese Handlungsunfähigkeit ließ mich durch die zugleich aufkommende Panik nur langsam einen kühleren Verstand wiedergewinnen. Nur logisches Denken und nicht blinde Wut konnte jetzt helfen.
Es gab nur folgende Möglichkeiten: Ich hatte vielleicht doch überlebt und war durch die überaus schweren Verletzungen blind und gelähmt. Dann würde ich offensichtlich ohnehin bald sterben. Aber das dürfte bei der Gründlichkeit der Mörder und der Vielzahl meiner Verletzungen unwahrscheinlich sein.
Eventuell war ich zu einem Geist geworden oder auf dem Weg ins Himmelreich. Dagegen sprach jedoch, dass ich immer noch auf menschenähnliche Art dachte, hörte und roch.
Somit erschien nur eine dritte Variante zutreffend. Mamas Elixier aus der Kapsel hatte diesen Zustand herbeigeführt. Das Mittel aus der geheimen Schatzkammer war also echt und wirkte tatsächlich so, wie sie es mir beschrieben hatte. Die Zeit hatte der Kraft des dämonischen Nektars nicht geschadet.
Meine Haut erfühlte inzwischen auch direkt die Kühle und Feuchtigkeit der Umgebung. Die Sinneswahrnehmungen kehrten offensichtlich schrittweise zurück. Alles um mich her war nass.
Ein rasender Schmerz durchtobte meinen Körper. Ich spürte jetzt auch die Wunden und plötzlich auch einen zarten ersten Schlag meines Herzens. Das restliche Blut wurde durch die Adern gepumpt. Bald schlug es noch kräftiger und stärkte meinen Lebenswillen.
In der Ferne hörte ich Schüsse und Granatexplosionen.
„Die Front rückt näher! Wann sind wir endlich beim Schacht?“, grummelte ein Begleiter, der sich mit anderen in meiner Nähe befinden musste. Ich konnte nur vermuten, dass sie neben der blutigen Fracht saßen. Der Wagen kutschierte die scheinbar leblose Fracht zum geplanten Grab.
Angst machte mir zu schaffen. Gleichzeitig erfasste mich selbst Kampfeslust. Ich zwang mich zur Beherrschung. Nur wenn ich klug vorging, konnte ich erfolgreich sein, denn das Mörderpack hielt mich für tot. Das war zugleich meine Chance.
„Die weißen Banditen schließen den Ring um Jekaterinburg“, hörte ich den verhassten Jurowski nervös sagen. Er war also mit von der Partie.
„Sie kommen jedoch zu spät, die Zarenbagage ist schon tot!“, schloss er höhnisch und stolz auf sein Mordwerk.
„Das kann für uns aber böse enden“, wandte einer der Soldaten zögerlich ein.
„Keiner wird es erfahren! Wir schmeißen alle in den Schacht und sprengen diesen, da findet sie niemand mehr! Die bleiben für immer verschwunden. Dann machen wir uns davon. Jekaterinburg muss leider vorerst aufgegeben werden. Aber wir kommen wieder.“
Das Ruckeln des Wagens übertrug sich mir immer deutlicher. Inzwischen erfasste ich die gesamte Situation immer besser. Doch noch immer waren meine Muskeln gelähmt. Würde sie noch rechtzeitig erstarken? Wie konnte ich mich so überhaupt befreien, wenn sie mich vergruben? Befürchtungen und Wut mischten sich miteinander und schufen einen Fluss aus Panik und Hass.
Wir waren anscheinend angekommen, weil das Fahrzeug hielt. Ich konnte immer noch nicht sehen.
„Schmeißt das Gesindel in die Grube!“ befahl Jurowski kurz.
„Sollen die Ratten ein Festmahl bekommen!“, höhnte Medwedew.
Jemand anders wurde von der Pritsche des Wagens genommen. Die Rotgardisten trugen die erste Leiche davon.
Mir war so unendlich kalt! Bis in das Mark wirkte die nächtliche Kälte auf meinen nackten, geschwächten Körper und lähmte mich zusätzlich.
Das Kommando holte einen weiteren Toten ab. Sollte ich nun unter einer Ladung Erde mein Ende finden? Trotz meines eigenwilligen Zustandes empfand ich Furcht und wollte keinesfalls lebendig begraben werden.
Konnte das alles, was ich gerade erlebte, nicht doch ein Traum oder das Delirium des Todes sein?
„Macht schnell!“, hetzte Jakow Michailowitsch Jurowski seine Männer.
„Die Schüsse kommen immer näher. Die Front scheint gerade ganz aufzubrechen!“
Jetzt war ich an der Reihe. Sie achteten durch die Eile nicht auf mich. Das war gut. Den Gestank des Schweißes meiner Peiniger, den Geruch des billigen Tabaks und ihres warmen böswilligen Blutes werde ich nie vergessen, er prägte mich. Sogar ihre pochenden Herzen glaubte ich zu hören. Seltsam lüsterne Mordgier stieg in mir auf. Der sich wandelnde Körper verlangte offenbar nach einer ganz besonderen Nahrung. Das waren keine menschlichen Gefühle, sondern die eines neuen, mir fremden Wesens. Sie waren stärker als mein Verstand.
Ich jaulte auf, doch zum Glück entrang sich kein Ton meinem Hals. Tobend wollte ich am liebsten auf sie, doch der Körper blieb versteinert.
„Hast du das auch gefühlt?“, stieß einer der Träger ängstlich hervor.
„Was?“, flüsterte der andere.
„Irgendeine Bewegung! Und mir ist plötzlich eisig kalt. Meine Haare stehen zu Berge!“
„Das ist so mit Leichen, die zucken manchmal. Das ist wie bei geköpften Hühnern“, wiegelte der andere ab.
Ich fiel aus recht großer Höhe zu Boden und schlug flach auf. Frischer Schmerz durchzuckte mich. Ich verlor erneut das Bewusstsein. ...
Als ich erneut erwachte, hörte ich von oben Stimmen.
„Geht hier wirklich alles schief? Die Sprengladung explodiert einfach nicht! So eine Hundescheiße! Fick doch deine Mutter! Die Weißen kommen immer näher! Wir müssen zurück in die Stadt und Säure sowie Benzin holen. Das Pack muss unbedingt verbrannt werden! Keiner darf sie finden! So lautet der Befehl von ganz oben“, schimpfte Jurowski.
Ihr Plan hatte wie durch ein Wunder nicht funktioniert. Sie fuhren noch einmal fort.
Töten ist schon schwierig, das Verbergen des Verbrechens noch mehr. Es war, als hätte eine höhere Macht sich gegen sie verschworen.
Von oben hörte ich Schüsse, hier unten das Getrappel von Tieren. Es waren offenbar aufgeregte Ratten.
Nach einiger Zeit konnte ich mich etwas bewegen. Die Lähmung ließ nach. Auch die Sehkraft kehrte endlich mit neuer Stärke zurück. Zuerst konnte ich nur einen Finger, dann ein Augenlid, dann einen Zeh heben. Eine Ratte hatte sich inzwischen an meinem nackten Bein zu schaffen gemacht und biss probeweiser vorsichtig ein Stück Haut heraus.
Angewidert und zornerfüllt griff ich zu. Das erstaunte Tier hatte damit nicht gerechnet und vergaß zu fliehen.
Boshaft sah ich dem verängstigten Tier in die Augen und quetschte die Hand zusammen. Blut tropfte durch die Finger in meinen Mund. Weitere Kraft begann mich zu durchströmen. Die eisige Kälte meines Inneren erwärmte sich und ließ die Starre der Muskeln schwinden.
So lag ich eine Weile da und jagte auf diese Weise. Es war ein kleines Vergnügen und die erste Mahlzeit zugleich. Ich nahm das neue Leben dankbar an. Die Welt der Lebenden hatte mich schlecht behandelt und ausgestoßen. Jetzt würde ich den Spieß umkehren, sofern ich entkam.
Nachdem etwas Kraft zurückgekehrt war, erhob ich mich mühsam. Ein bitterer Anblick bot sich. Nackt, blutüberströmt und von Wunden zerrissen lag meine gesamte Familie wahllos auf dem Boden, weggeworfen wie Müll. Die Ratten hatten sich inzwischen aus Angst verzogen.
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