Irgendwann, nach vielen Stunden, in denen ich mir in jeder freien Minute am Tag und nachts wach im Bett liegend jede einzelne der komplexen, gemeinsamen Bewegungen zwischen mir und dem Pferd unter mir in Zeitlupe vorgestellt und immer wieder durchlebt habe, ging es plötzlich: Ich war im gleichen Rhythmus wie das Pferd, auf dem ich Reitunterricht hatte!
Dann ging es eine, zwei, drei, vier, ja viele ungezählte Runden im weichen, gleichmäßig immer schneller werdenden Galopp in der Halle immer an der Wand entlang und im Kreise herum. Erst beim Absteigen, als mir etwas schwindelig war und ich mich durchgewalkt gefühlt habe, also erst beim Absteigen habe ich gemerkt, wie mir der Hintern brannte, als sich das Leder der Reithose etwas anders spannte. Noch etwas später, erst als ich zu Hause war, habe ich – nicht ohne einen Spiegel – gesehen, wie rosa mein Hintern an der Stelle war, mit der ich den Kontakt zum Sattel auch im Galopp immer gehalten hatte.
Den Trick, meinen Hintern vor jeder Reitstunde mit Hirschtalg (den gibt es als Stift, wie einen Labello-Stick) einzuschmieren, hat mir Philipp erst danach gegeben. Zu der Zeit habe ich ihn schon einige Male gebraucht, dann später all die Jahre mit Poseidon nie mehr.
Als ich sicher galoppieren konnte, hatte mir Manfred Wallenhauer ein sehr edles Schulpferd anvertraut. Es war ein dunkelbrauner Wallach namens Tenor – Betonung auf der ersten Silbe.
Oft bin ich schon früh morgens da gewesen, als noch niemand auf dem Hof war. Eines Morgens lag Tenor sogar noch im Stroh und war langsam dabei, sich aufzurichten. Erst blieb er mit untergeschlagenen Beinen eine zeitlang sitzen, bevor er sich in voller Größe hinstellte. Er hatte noch viele Schlaffalten auf einer Seite im Fell und die Strohhalme fielen langsam herab.
Ich habe alles alleine gemacht, gründlich gestriegelt, Hufe gekratzt, aufgezäumt, gesattelt, die Beine gewickelt und habe dann in der Halle meine Runden mit ihm gedreht. Es mussten ja alle Dressurübungen verinnerlicht werden. Am Ende konnte ich ihn postkartengenau manövrieren. Das ist beim Reiten im Wald dann später ja lebenswichtig.
Ich war nicht immer alleine mit Tenor in der Reithalle. Ab und zu war auch der Kunstprofessor Harro mit seinem riesengroßen Pferd Godon, der hatte ein Stockmaß von 190, mit in der Halle. Ob es mich gestört hat, oder ob es mir doch am Ende geholfen hat, kann ich nicht genau sagen. Jedenfalls durchkreuzte er die Halle dort ganz elegant und schwungvoll und es gibt auch Vorfahrtsregeln, die Tenor und ich genau kannten. Dabei hat mir auch gut gehorcht, als ich ihm mit den geeigneten Paraden signalisierte, dass wir sie auch besser anwenden sollten.

Harro konnte es dann aber nicht lassen, mich – so gut wie ich mich mit Tenor bemühte – anzuschreien, um mir die Finessen der Reitkunst, so wie er sie sich selbst und mir vorführte, beibringen zu wollen. Da hockte er gar nicht mehr ganz so elegant gestreckt, sondern mit krummem Rücken keifend auf seinem Pferd und fuchtelte mit der Gerte in der Luft herum und bellte mich an. Tenor nahm es gelassen, ich dann auch, und am Ende habe ich noch etwas gelernt.
Es gab dann bald die Belohnung:
Als ich ihm zeigen konnte, dass ich aus schnellem Galopp innerhalb weniger Schritte Tenor zum Halten bringen konnte, meinte er, nun sei die Grundbedingung erfüllt, dass ich mit ihm einmal in den Wald ausreiten könnte.
Nach diesem ersten Ausritt mit Tenor im Wald, in Begleitung mit Harro auf seinem Godon, bin ich dann viele Male mit Tenor ganz alleine im Wald unterwegs gewesen. Wir waren eine Einheit geworden.
Mit Tenor hatte ich mich richtig gut angefreundet, dann kam aber schon die nächste, noch bessere Gelegenheit: Ich bekam Wapiti als Reitbeteiligung von einer Amerikanerin, die ihn nicht jeden Tag reiten konnte, angeboten. Er war ein leicht nervöser Fuchswallach, mit dem ich nach einigen Unterrichtsstunden, die der gegenseitigen Eingewöhnung dienten, dann aber auch gleich alleine in den Wald geritten bin.
Beim ersten Ausritt, bei dem zunächst eigentlich alles sehr gut und fehlerfrei geklappt hatte, raste er am Ende dann aber doch im schnellsten Galopp, als es eigentlich ganz scharf rechts um die Kurve gehen sollte, wohl wegen der hohen, von mir nicht mehr bremsbaren Geschwindigkeit, mehr geradeaus als nach rechts in eine Waldschonung hinein. Bevor er mich zwischen zwei Bäumen abstreifen konnte, bin ich noch schnell abgesprungen, aber er ist dann schlank weitergerast und war dann ohne mich deutlich früher wieder im Stall als ich ohne ihn.
Am nächsten Tag bin ich dann gleich wieder mit ihm dieselbe Strecke abgeritten und dann ist das nie wieder so passiert. Er hat mir von da an detailgetreu gehorcht und wir haben den Wald gemeinsam erkundet.
Er mochte Möhren und Weintrauben sehr gerne. Für die Möhren hat er immer seinen linken Vorderhuf ganz hoch bis an seinen Bauch angehoben und so, auf drei Beinen stehend, hat er seinen Kopf ganz tief gesenkt. Kurz bevor er umzufallen drohte, hat er dann nach der jeweiligen Möhre geschnappt. Und die raschelnde Papiertüte, in der ich die Weintrauben immer mithatte, hat ihn immer so lange aufgeregt, bis er dann jeweils eingesehen hatte, dass sie am Ende wirklich leer war.

Eines Tages ging seine Besitzerin in die USA und es stand der Abschied an. In seiner Box stand er hinter mir, hatte seinen Kopf über meine rechte Schulter geschoben und hielt mich mit seiner Schnauze an meinem Bauch an sich gedrückt fest. Er hat mich wirklich festgehalten, denn bei jeder Bewegung, die ich machte, als ob ich gehen wollte, hat er noch fester zugedrückt. Woher weiß ein Pferd so etwas?
Wapiti habe ich übrigens nie wieder gesehen, Tenor auch nicht.
„Willst Du Poseidon einmal reiten?“ fragte mich eines Tages Miriam. Sie ist die Schwester von Benni, einem Freund von Kalinka.
Kalinka ist meine Tochter – deshalb kenne ich Miriam.
Wir fuhren nach Bergholz-Rehbrücke zum Gestüt Heike Fischer. Dort steht Poseidon (Pferde „stehen“ immer auf einem Gestüt). Das ist eine sehr schöne Anlage am Rand von Potsdam, ein Zucht- und Ausbildungsbetrieb, hier leben mehr als fünfzig Pferde. Es gibt Auslauf auf endlos großen Weiden und auf riesigen Feldern wird das eigene Heu und Stroh angebaut und im Jahresrhythmus geerntet. Die Reithalle wird von den fünfzig Pferdeboxen eingerahmt, es gibt eine Longierhalle, einen Springplatz, und mehrere Dressuranlagen – auch einen Spielplatz für Kinder.
Die Weiden, auf denen sich die Pferdeherden täglich aufhalten, werden von ausgedehnten Treibe- und Reitwegen gesäumt. Dorthin führte mich Miriam und wir holten Poseidon von der Weide ab. Ein zweites Pferd, Cornelius, kam gleich mit. Cornelius gehört Melanie, sie ist die Schwester von Miriam. Beide hatten von ihrem Vater ein Pferd geschenkt bekommen.
Zur Erklärung, warum Poseidon auf diesem Bild so hellbraun ist: Poseidon ist ein Winterrappe. Von seinem Vater hat er sein schwarzes Fell, von seiner Mutter sein braunes. Im Winter wächst ihm das dickere, schwarze Fell. Nach dem Fellwechsel im Frühling bekommt er, wenn die Sonne viel scheint, sein braunes Fell.

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