Es ist das Jahr 1897. Der große Goldrausch im Yukon ist jetzt in vollem Gange. Alle reisen nach Norden. Cowboys verlassen die Ranches. Händler schließen ihre Läden. Polizisten lassen ihre Posten im Stich. Väter verlassen Hals über Kopf ihre Familien, und selbst der Bürgermeister von Seattle besteigt das nächste Schiff zu der noch kleinen Goldsucher Siedlung Skagway/Alaska. Deutsche, Norweger, Holländer, Italiener, Chinesen und Japaner. 100.000 Männer folgen dem Lockruf des Goldes an den Klondike. Clay weiß nur zu genau, dass die schlechtesten Eigenschaften eines Menschen zum Vorschein kamen, wenn ihn erst das Goldfieber gepackt hat.
Tjaa, und jetzt sitzt er hier in Seattle und wartet auf den Dampfer, der ihn nach Skagway bringen soll. Er hatte früher nie irgendwelche Rachegefühle. Doch jetzt kann er an nichts anderes mehr denken, als seinen verdammten Stiefbruder zu fassen. So sehr er sich auch bemüht, diese Gedanken aus seinem Gehirn zu verbannen. Sie bohren in ihm wie ein böser Dämon.
Stöhnend wälzt sich Clay aus dem Bett und blickt sich um. „Wieder so ein billiger Schuppen,“ denkt er mürrisch. Außer einem wackligen Schrank, einem ebensolchen Tisch und einem Stuhl steht neben dem Bett noch eine alte Kommode. Und darauf ein Krug Wasser und eine Schüssel, in der er jetzt missmutig das Wasser schüttet. Das kühle Nass erweckt wenigstens etwas seine Lebensgeister. Ansonsten ist das Zimmer nur noch „geschmückt“ mit schmutzigen Gardinen, die kaum das Tageslicht hindurch lassen. Er zieht sie zurück und schaut auf die Straße. Es ist noch früh am Morgen und wenig Betrieb. Von hier aus kann man sehr gut den Hafen erkennen. Einige kleine Schiffe liegen dort an der Pier, von den großen Dampfschiffen ist nichts zu sehen.
Er überlegt krampfhaft, was ihm Betty gestern Abend noch alles erzählt hatte. Sollte der Dampfer heute Morgen, am Nachmittag oder sonst irgendwann hier auftauchen? Er weiß es nicht mehr. Er hat einen kleinen Blackout. Er weiß nur, dass er nach Skagway muss. Und dann von dort weiter nach Dawson City. Stöhnend und fluchend lässt er sich auf das knarrende Bett fallen und versucht, seine Gedanken zu ordnen.
Schon seit Wochen ist er jetzt unterwegs zu den Goldfeldern am Klondike. Denn dort vermutet er Jack. Doch er ist nicht unterwegs, um sich dem Wahnsinn des Goldrausches anzuschließen. Die vielen Idioten, die Haus und Hof im Stich ließen und sich aufmachten, im Norden nach dem Edelmetall zu buddeln, belustigen ihn nur. Ihn hat das Goldfieber nie angesteckt. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt lieber mit der Rinder - und Pferdezucht. Das ist sein Leben. Er ist Cowboy mit Leib und Seele. Er hat nichts anderes gelernt.
Jetzt wartet er mit einem dicken Kopf auf den Dampfer, der ihn nach Skagway bringen soll. Er erhebt sich von seinem Bett und fängt an, sich anzuziehen. Wütend über sich selbst und seine durchzechte Nacht, steigt er seufzend in seine Stiefel, streift sich das Hemd über und zieht die mit Schaffell gefütterte Weste an. Diese Weste ist auch das Einzige, was er von einem Schaf an sich heranlässt. Er mag diese Viecher einfach nicht. Dann knotet er sich noch sein gelbes Halstuch um, über das sein Bruder immer so lachte. Ja, es ist auch wirklich knallgelb. Schon von Weitem erkennt man, wer da geritten kommt. Doch Clay liebt diese Farbe und hatte lange gesucht, bis er so ein Exemplar ergatterte. Anschließend stülpt er sich den schwarzen, mit Pferdehaar verzierten Hut auf den Kopf und legt zu guter Letzt noch den Revolvergurt um. Auf den legt er besonderen Wert. Er ist aus punzierten, schwarzem Rindsleder und von ihm selbst angefertigt. Der 45er-Colt Single Action, der im Holster steckt, ist sogar mit Hirschhorngriffen ausgelegt. Und in den Rahmen sind kleine Motive eingraviert. Für damalige Verhältnisse ein Prachtstück. Dann greift er sich noch seine Winchester und macht sich auf den Weg nach unten.
In der Stadt ist mittlerweile das Leben erwacht. Immer mehr Männer und sogar Frauen drängen hinaus zum Hafen. Abenteuerlich aussehende Typen, die alles Mögliche mit sich herumschleppen. Einer hat sogar ein großes hölzernes Schild auf seinem Packen festgeschnallt. „Yukon Saloon“, liest Clay darauf. Er muss grinsen und schüttelt den Kopf. „Wo in aller Welt will der Kerl einen Saloon bauen,“ denkt er.
Clay hat sich schon vorsorglich Informationen geholt und weiß in etwa, was auf die „Stampeders“ zukommt. Aber auch auf ihn. Stampeders nennt man die Abenteurer, die zu Abertausenden in den Yukon strömen. Nicht mehr Herr ihrer Sinne. Nur noch nach Reichtum und Glück lechzen, was immer dies auch sein mag.
Die Nachricht von sagenhaften Goldfunden verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Irgendwie hat fast jeder in dem rauen, dünn besiedelten Land davon erfahren, und die meisten haben sich bereits ein großes Stück vom Kuchen gesichert. Viele wissen: Sobald das Frühjahr den Weg über die Berge und auf dem Fluss passierbar macht, werden Tausende nach Dawson City kommen. Goldsucher, Glücksritter und Abenteurer aus dem Süden und aus allen Teilen der Welt. Der Goldboom hatte schon ein Jahr zuvor begonnen. Jetzt war er in vollem Gange.
Langsam schlendert Clay durch die Straßen hinüber zum Hafen, als er plötzlich seinen Namen rufen hört. Er dreht sich um. In der Menge der wie Ameisen herumziehenden Menschen entdeckt er Betty. Das Mädchen aus dem Saloon. Sie winkt und ist bemüht, sich durch die Mauer der Menschenmassen zu ihm durchzukämpfen. Geduldig wartet Clay, bis sie mit rotem Gesicht und fast außer Atem bei ihm ankommt.
„Hallo Betty“, ruft er erstaunt. „Was machst du hier? Wo willst du denn hin?“
Betty schluckt aufgeregt und blickt Clay Morgan mit ihren großen schwarzen Augen an. Im Gedränge rempelt ein Mann sie mit seinem Rucksack an, sodass sie ins Wanken gerät. Clay zieht sie etwas zur Seite. Weg aus der Masse der Menschen.
„Clay Morgan“, sagt sie mit blitzenden Augen. „Willst du einfach so heimlich verschwinden? Weißt du nicht mehr, was du mir gestern Abend versprochen hast?“ Clay kneift die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und denkt angestrengt nach.
„Hmm, nöö, keine Ahnung. Was soll ich dir schon versprochen haben? Wir kennen uns doch erst seit gestern. Außerdem muss ich dir sagen, dass du mich ganz schön abgefüllt hast ...“ Hierbei verzieht er ärgerlich sein Gesicht.
Betty stemmt die Arme in die Hüften, schiebt energisch den Kopf nach vorn und ruft aufgeregt.
„Ich dich abgefüllt? Du bist wohl von allen guten Geistern verlassen? Wer hat denn nach immer mehr Tequila gerufen. Ich wollte dir schon nichts mehr geben. Weil du einem der Männer einen Tritt in den Hintern gegeben hast. Nur weil der mich angegrinst hatte. Fast wäre es noch zu einer Schlägerei gekommen.“ Ungläubig starrt Clay die Kleine an. Kratzt sich verlegen am Kinn und weiß nichts zu sagen. Braucht er auch nicht, denn Betty ist in ihrem Element. Die kleine wilde Katze.
Alle Männer starrten nur sie an, wenn sie oben auf der kleinen Bühne ihre Beine schwang, oder durch den Saloon schwebte. Doch sie erteilte jedem eine Abfuhr, der ihr all zu dicht auf den Pelz rückte. Sie schien unnahbar. Deshalb war Clay Morgan auch erstaunt, als sie später zu ihm an den Tisch kam. Er war beileibe kein Adonis. Mit seinen etwa 1,75m eher unscheinbar. Mit blaugrauen Augen und einem Schnauzbart. Er ist schlank und muskulös. Doch nicht unbedingt der Typ, dem Frauen hinterher schmachten. Und bis jetzt hatte er auch noch keine Beziehung gehabt, die ihm ernsthaft etwas bedeutete. Oh ja, sie unterhielten sich prächtig an diesem Abend. Wie zwei alte Kumpels, die sich nach langer Zeit wieder trafen. Und so nach und nach erzählte Clay ihr auch über sein Leben. Jedoch kein Wort davon, was ihn wirklich in den Norden trieb. Er war eigentlich auch nicht in der Stimmung, eine Beziehung einzugehen. Dafür hatte er im Moment zu viele Probleme. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab, einfach zu gehen. Und zudem war sie eine gute Zuhörerin. Seine offene und ehrliche Art schien sie zu beeindrucken. Sein herzliches Lachen steckte sie an. Und auch er fand schon längst Gefallen an dem Mädel. Obwohl sich sein Verstand dagegen sträubte. Und Clay bekam es im Laufe des Abends gar nicht mehr mit, dass sie ihn immer interessierter anblickte und mit ihm flirtete.
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