L.U. Ulder
Angst macht große Augen
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Titel L.U. Ulder Angst macht große Augen Dieses ebook wurde erstellt bei
Angst macht große Augen Angst macht große Augen ( Ein Leving & Holland Fall ) L.U. Ulder Der Autor ist Mitglied im Syndikat.
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Impressum neobooks
( Ein Leving & Holland Fall )
L.U. Ulder
Der Autor ist Mitglied im Syndikat.
Hamburg, im Frühjahr 2013
Gedankenverloren betrachtete er die Fotografie, drückte mit den Fingerspitzen die hochgebogenen Ecken in ihre Form zurück und tauchte ein in einen Film, der wie automatisch vor seinem inneren Auge zu laufen begann. Ihm war, als könne er den Geruch ihrer Haut wahrnehmen, ihr dezentes, leicht fruchtiges Parfüm, das bei jeder Bewegung ihrer langen Haare aufwallte und ihn wie ein luftiger Schleier umhüllte. Er spürte ihre weiche, warme Hand, wie sie zum Abschied zärtlich über seine Wange strich.
Abschied.
Die Dinge hatten sich nicht so entwickelt, wie sie beide es sich vor einiger Zeit so sehr gewünscht hatten. Er hielt sie in den regelmäßigen Telefonaten hin, so gut er konnte, hoffte, so etwas Zeit zu schinden, Zeit, die vielleicht doch noch alles zum Guten wenden würde. Aber sie hatte ein feines Gespür, an ihren Reaktionen merkte er ihre Verunsicherung. Zu viel Unausgesprochenes lag mittlerweile zwischen ihnen, zu viel Schuld war ihm aufgezwungen worden und es fiel ihm immer schwerer, Zuversicht auszustrahlen. Schon gar nicht nach den Ereignissen vor zwei Tagen. Nicht mehr lange und er würde ihr die Wahrheit sagen müssen.
Ein laut ausgesprochener Name riss ihn heraus aus seinem Sekundentraum.
Sein Name.
„Azamat!“
Er blickte auf und sah in das bartstoppelige Gesicht des Mannes rechts von ihm. Bulat schob ihm mit seinem typischen Grinsen, das die riesige Zahnlücke im Oberkiefer entblößte, ein bis zum Rand aufgefülltes Glas zu. Wodka schwappte über und hinterließ eine schimmernde Spur auf der Tischplatte. Seufzend legte er das an den Rändern wellige Bild wieder in einen Umschlag, den er sorgfältig in eine rote Plastikhülle steckte. Bevor er den Wodka zu sich heran zog, drehte er sich nach hinten und ließ die Hülle in einem alten Seesack verschwinden.
Dimi, der jüngste von ihnen, den sie nur den Dicken nannten, begann wieder, Karten auszugeben. Jetzt drängelte er, dabei war er derjenige gewesen, der die wehmütige Stimmung in den Container holte, als er stolz die Bilder seiner jungen Frau und seines Babys herum zeigte. Bulat, wie Azamat Ende Zwanzig, hatte keine Frau, er kramte aus seinen Habseligkeiten die Bilder der Familie, Eltern, Großeltern, Geschwister, Geschwister und nochmal Geschwister.
Die drei Männer am Tisch der schäbigen Behausung lachten und scherzten wieder, zunächst verhalten, dann immer unbeschwerter. Reichliche Mengen Alkohol spendeten Trost und halfen beim Verdrängen des alten Lebens und des missglückten Neuanfangs.
Sie spielten Durak, jenes alte russische Kartenspiel, bei dem derjenige verlor, der als Letzter noch Karten in der Hand hatte und damit der Durak, der Dummkopf, war.
Anfangs hatte sich Azamat noch geziert, ausgerechnet an einem russischen Spiel teilzunehmen. Als sich seine beiden Mitbewohner nicht beirren ließen und zu spielen begannen, fügte er sich in sein Schicksal und beteiligte sich. Ruhe würde er in dem winzigen Raum ohnehin nicht finden.
Er knurrte leise die Worte „wir sind alle Duraky“ und setzte sich mit an den Tisch.
Jetzt standen Bierdosen und eine halbvolle Wodkaflasche auf dem Tisch. Eine weitere, leere Flasche auf dem Boden wurde gerade von einem unvorsichtig ausgestreckten Fuß umgestoßen. Scheppernd fiel sie auf den schmutzigen Boden und rollte auf eine der Schlafpritschen zu. Sie tranken, um sich zu betäuben, um den Schmerz der Trennung und die Angst vor der ungewissen Zukunft zu verdrängen. Je mehr sie tranken, umso besser gelang es ihnen. Heftig wurden die Karten auf die Tischplatte geknallt. Der Baucontainer, in dem sie saßen, bot lediglich Platz für den Tisch in der Mitte und für vier Pritschen, die längs an die Wände gestellt waren. Am Kopfende des kleinen Raums stand ein Elektroherd, auf dem noch die Reste der letzten Mahlzeit darauf warteten, entsorgt zu werden. Der primitive Raum wirkte ebenso verwahrlost, zahlreiche achtlos zerknüllte Bekleidungsstücke und Fastfoodverpackungen bildeten ein wüstes Durcheinander.
Die Männer lebten seit mehreren Wochen in der Behausung am Rande des Containerdorfes. Von den Bewohnern der benachbarten Hütten, allesamt Beschäftigte unterschiedlicher Firmen auf der angrenzenden Großbaustelle, waren sie bislang unbehelligt geblieben. Bewegten sie sich zu Anfang mit einer gewissen Vorsicht und Unsicherheit auf dem Gelände, war ihr Aufenthalt mittlerweile längst zur Routine geworden. Niemand schien sich für sie zu interessieren, dafür war das provisorische aufgebaute Hüttendorf zu groß und zu unübersichtlich. Sie konnten kommen und gehen wie sie wollten.
Azamat schnipste seine letzte Karte auf den Tisch und stand auf. Dimi sah ihn fragend an, nickte aber sofort verstehend, als er mit dem Daumen nach draußen deutete. Er ging durch die Tür, die den Raum mit einem winzigen Flur verband und von dort in die kaum größere Nasszelle. Mechanisch drückte er auf den Lichtschalter. Für einen Sekundenbruchteil flammte das Licht mit einem Zischen auf, danach war es dunkel. Nur noch schwacher Schein drang von draußen durch das Oberlicht und aus dem Flur durch die einen spaltbreit offenstehende Tür hinein.
Seinen Fluch quittierten die beiden Mitbewohner mit schadenfrohem, kehligem Lachen, dann schloss sich die Tür zum Innenraum, die Toilette drückte er nicht ganz zu, um besser sehen zu können. Während er seine Hose hinab ließ, gewöhnten sich die Augen an das Zwielicht. Bereits sitzend nahm er verwundert ein leises, quietschendes Geräusch wahr. Er drehte den Kopf, um sein Ohr in Richtung der Eingangstür zu wenden. Dieses Geräusch kannte er nur zu genau. Hatte er es vor einigen Tagen noch selbst unnatürlich laut gehört, als er spät zurückkam und die drei schlafenden Mitbewohner nicht stören wollte. Je langsamer die Eingangstür geöffnet wurde, umso mehr quietschte sie. Im ersten Moment nahm er an, Andrej, der vierte Mann im Baucontainer, sei zurückgekehrt. Der war am Nachmittag plötzlich verschwunden, ohne den anderen etwas zu sagen. Aber dieses Schleichen passte nicht zu ihm. Andrej gebärdete sich wie ihr Anführer und in gewisser Weise war er das auch. Wenn er den Container betrat oder verließ, knallten die Türen ohne Rücksicht auf die Tageszeit.
Sie bekamen ungebetenen Besuch, daran gab es keinen Zweifel und er begann auch zu ahnen, warum.
Deutlich hörte Azamat, wie sich Schuhe auf dem Linoleum des schmalen Flures bewegten. Ihr Träger war darauf bedacht, so leise wie möglich zu sein, aber auf dem Boden lag viel zu viel Schmutz, um sich mit Straßenschuhen völlig geräuschlos vorwärts bewegen zu können. Langsam, wie in Zeitlupe arbeitete sich der unbekannte Eindringling über den nur wenige Schritte kurzen Flur vorwärts. Im Licht, das durch den Türspalt herein drang, tauchte ein Schatten auf. Azamat saß reglos auf der Toilette und hielt die Luft an. Mit rasendem Pulsschlag sah er die Tür geräuschlos auf sich zukommen und er zog den Kopf tief ein, um nicht im Spiegel der gegenüberliegenden Wand gesehen zu werden. Gleichzeitig ballte er die Fäuste, um seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Zu seiner Erleichterung wurde die Tür nicht ganz aufgeschoben, mitten in der Bewegung blieb sie stehen. Der Eindringling schlich zurück, weiter in den Container hinein. Azamat warf einen dankbaren Blick auf die durchgebrannte Lampe unter der Decke. Er atmete, so flach es ging und überlegte verzweifelt, ob er seine Zimmergenossen durch laute Rufe warnen und damit gleichzeitig seinen Standort preisgeben sollte.
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