»Wir werden es gleich wissen«, antwortete Mutter ruhig. »Herein, die Tür ist offen.«
Die Tür schwang auf und ein Mann betrat die Hütte. Er trug ein ledernes Wams und einen roten Hut mit einer Feder daran.
»Eine Botschaft von meiner Herrin, der Lady.« Unsicher sah er sich um. Er hatte wohl eine etwas repräsentativere Behausung erwartet.
Mutter kam seiner Frage zuvor. »Ah, von meiner Mutter. Was hat sie uns denn zu sagen?« Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab.
Der Bote griff in seine Joppe und zog eine Schriftrolle heraus. »Soll ich sie …«, fragte er vorsichtig.
»Ich kann lesen, danke«, sagte Mutter kühl und nahm ihm das Schriftstück aus der Hand. Achtlos erbrach sie das Siegel und entrollte das kostbare, schneeweiße Papier. Während sie den Inhalt überflog, sah sie kurz zum Boten hin, der etwas ratlos immer noch in der Tür stand. »Danke.«
Sömma sah ihn entschuldigend an. Der Mann räusperte sich, dann ging er.
»Was gibt’s denn?«, fragte Sömma. Mutter wollte ihr schon die Nachricht überreichen, als ihr einfiel, dass Lesen nicht ihre größte Stärke war und sie wollte sie nicht in Verlegenheit bringen.
»Mutter ist krank.« Erschrocken sahen Kleo und Sömma sie an. Sie hob die Stimme. »Naja, so schlecht wird es ihr schon nicht gehen, Baba ist zäh.«
Sömma hob entrüstet die Augenbrauen. Kaum war Großmutter krank, tat sie so, als sei sie eine Heilige, dachte Mutter. Dann fuhr sie fort: »Sie möchte eine bestimmte Arznei aus der Apotheke, die man dort nach ihrem Wünschen hergestellt hat. Und – Lilli soll sie ihr bringen.«
Verständnislos sahen Sömma und Kleo einander an.
»Lilli? Warum Lilli?«, fragte Sömma und schielte auf das Schriftstück.
»Das steht da nicht.« Mutter las die Nachricht noch einmal, dann zuckte sie ratlos die Achseln. »Und sie soll die rote Haube tragen, die sie ihr geschenkt hat, damit ihre Wachen sie schon von Weitem erkennen und ihr das Tor öffnen.«
»Warum hat der Bote die Medizin denn nicht gleich mitgenommen?«, fragte Kleo.
»Das verstehe ich auch nicht.«
»Egal, sie muss sie ihr bringen«, stellte Sömma fest.
»Ich weiß nicht, es ist ein weiter Weg und der Wald ist gefährlich«, gab Mutter zu bedenken.
»Das fällt dir jetzt ein, Schwesterchen. Wo die Kleine doch jeden Tag am Waldrand spielt … oder sogar im Wald.«
»Lilli geht nicht in den Wald, das hat sie mir versprochen. Im Übrigen dürfte der Wald hinter dem Haus kaum vergleichbar sein mit dem Weg zu Baba. Das ist ein gewaltiger, dunkler Wald.«
Sömma war deutlich anzusehen, dass sie daran ihre Zweifel hatte, sie ging aber nicht darauf ein, sondern beruhigte die Mutter. »Die neue Straße ist sicher. Großmutter hat sie doch selbst bauen lassen.«
»Ja, schon, aber Lilli ist doch noch so klein …«
»Sie ist eine junge Frau. Jünger zwar als Kleo …«
»Warum eigentlich nicht Kleo?«
Darauf wusste keiner eine Antwort. Kleo kaute angestrengt auf ihrer Unterlippe. »Vielleicht ist das Ganze eine Art Prüfung«, begann sie. »Ja, das muss es sein. Sie möchte wissen, ob wir tun, was sie uns sagt.«
»Das wird der Grund sein! Kleo, du bist ein kluges Kind.« Sömma war sofort Feuer und Flamme. »Großmutter möchte wissen, auf wen sie sich verlassen kann.«
»Ich muss zugeben, das wäre der Alten zuzutrauen …« Mutter klang wenig begeistert.
»Ja, unbedingt. Und wir müssen sicherstellen, dass sie uns zu den Menschen zählt, denen sie unbedingt vertrauen kann.« Vielsagend hob Sömma die Augenbrauen. Dass Großmutter eine der reichsten Frauen in der ganzen Gemarkung war, musste sie nicht extra erwähnen.
Mutter seufzte. »Ich will erst warten, was mein Mann dazu sagt. Und natürlich Lilli.«
Warum sollte sie nicht in den Wald gehen? Lilli fand die abergläubische Angst ihrer Mutter total übertrieben. Ganz zu schweigen von der ewig schreckhaften Tante Sömma, der sie schon so manchen Streich gespielt hatte.
Lilli ging schon seit ihrer frühesten Kindheit in den Wald und hatte noch immer den Weg zurückgefunden. Mit der Frage, was sie immer in den Wald zog und was sie dort überhaupt machte, könnte man sie allerdings in Verlegenheit bringen.
Denn meistens saß sie einfach nur da; sie suchte sich ein schönes Plätzchen, einen umgestürzten Baum, der von der Sonne beschienen war, das sonnige Ufer eines kleinen Tümpels, eine kleine Lichtung, und beobachtete. Stundenlang blieb sie still, lauschte dem Gesang der Vögel und dem Quaken der Frösche, versank im Rauschen der hohen Tannen, bis sie glaubte, selbst ein Teil des Waldes geworden zu sein. Das waren ihre glücklichsten Momente. Sie konnte nichts anfangen mit dem Geschnatter der Mädchen in ihrem Alter, ihrem Geschwätz über Handarbeiten und Männer und teilte nicht ihren Fleiß beim Weben und Besticken ihrer unzähligen für die Aussteuer bestimmten Tücher. Wie viele handbestickte Tischtücher braucht man schon im Leben? Und erfüllte ein unbesticktes Taschentuch nicht ebenso seinen Zweck wie ein mit aufwändigem Monogramm verziertes?
Es war ein herrlicher Sommertag. Lilli kniete auf dem Boden und beobachtete, wie die Mücken auf der sonnigen Lichtung tanzten.
Ein Zweig raschelte und sie wusste, dass sich etwas näherte, auf leichten Pfoten daher tappte.
Lilli verhielt sich mucksmäuschenstill und wagte kaum zu atmen, um es nicht zu erschrecken. Sie schloss die Augen.
Sie hörte, dass das Tier ganz nahe sein musste. Ganz langsam öffnete sie ihre Augen, erst einen kleinen Spalt, dann ganz. Vor ihr saß das entzückendste Tier, das sie je gesehen hatte, und blickte sie aus großen, schwarzen Augen an. Es hatte ein rötliches Fell, das unglaublich weich und kuschelig aussah und seine spitzen Ohren verliehen ihm ein fast kluges Aussehen.
Noch immer bewegte sich Lilli nicht. Aber dieses Fell, das sah so weich aus, das musste sie einfach streicheln. Unendlich langsam hob sie die rechte Hand. Das Tier sah sie misstrauisch an, schien aber ebenso neugierig zu sein wie das Mädchen.
Es schnüffelte an Lillis Hand und erschauderte ein wenig. Oder bildete sich Lilli das nur ein?
»Du musst dich nicht fürchten«, sagte sie sanft. Tatsächlich schien das die Kreatur etwas zu beruhigen.
»Ich … der Geruch kam mir nur so bekannt vor.«
Das Tier hatte gesprochen! Oder nicht? Es hatte den Mund nicht bewegt und doch war es Lilli, als habe sie seine Stimme gehört. Wenn das ein Traum war, dann wollte sie am liebsten nie wieder aufwachen.
»Wie heißt du?«
Das Tier legte den Kopf schief und seine Knopfaugen schienen ihr direkt ins Herz zu blicken. »Du verstehst mich? Naja, ich sollte wohl nicht überrascht sein.« Es setzte sich hin. »Man nennt mich Raike.«
»Ich bin Lilli.«
»Hm.« Eine Fliege ließ sich auf seiner Stirn nieder und Raike schüttelte den Kopf. Als er nach dem lästigen Insekt schnappte, wurden kleine, spitze Zähne sichtbar.
Lilli kicherte. Es sah einfach zu süß aus.
»So ganz allein im Wald, Lilli?«
»Aber wir sind doch noch gar nicht richtig im Wald.«
»Also ich sehe ringsum nur Bäume. Hast du keine Angst, mein Kind?«
»Ach nein. Wovor sollte ich denn Angst haben?«
»Nun, …« Raike schien nachzudenken. »da hast du auch wieder recht. Dummer Aberglaube.«
»Du siehst so weich aus, darf ich dein Fell berühren?«
Raike verzog die Schnauze. »Naja, eigentlich ungern. Aber ausnahmsweise.«
Zart strich ihm das Mädchen über den weichen Pelz.
»Das darf nicht jeder.«
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