Direkt hinter dem Auerochsen kam der Wolf. Schneller, leiser, aber ebenso tödlich. Wo beim Auerochsen schiere Kraft regierte, zeigte der Wolf die sparsamen, präzisen Bewegungen eines Raubtiers. Er wartete, bis einer der Männer abgelenkt war, dann sprang er ihn an, warf ihn nieder und biss ihm in einem Ruck die Kehle durch. Ein junger Mann strich tröstend einem Mädchen über den Kopf, das sich weinend an ihn drängte, als der Wolf auf ihn losging. Das Kind verstummte, als der Mann neben ihr auf die Knie sank, doch es hatte keine Zeit, seinen Tod zu beweinen, weil es nur Augenblicke später blutend neben ihm in den Staub sank.
Fliehende waren dem Wolf eine besonders leichte Beute.
Mit Entsetzen beobachtete Dolph, dass nur noch wenige Männer in der Lage waren, sich zur Wehr zu setzen. Viele lagen da – tot oder so schwer verletzt, dass sie für den Kampf komplett ausfielen. Einige hatten sich auch zur Flucht gewandt, die schnappte der Wolf als erstes. Er riss sie nieder und biss sie von hinten in den Hals. Der Wolf verstand, zu töten. Frisches Blut troff von seinem Maul und hatte seine Kehle und sein Fell rot gefärbt.
Der Auerochse rannte auf die Gruppe mit den Frauen und Kindern zu, die völlig verängstigt hinter Bork Schutz suchten. Bork kämpfte wie ein Löwe, gekonnt schwang er seine Axt, spaltete Wildschweinköpfe und hackte Rehe in Stücke. Doch was konnte er mit seiner Axt einem Untier wie dem Auerochsen schon entgegensetzen?
Der Auerochse schnaubte, ein sehr tiefer Ton, den man eher in den Eingeweiden zu verspüren glaubte, als dass man ihn hörte. Wer nicht rechtzeitig zur Seite sprang, wurde niedergerannt. Und wer noch stand, dem biss der Wolf die Kehle durch. Mit spielerischer Leichtigkeit flog er von einem zum anderen. Wenn er wieder davon sprang, sank ein Mann darnieder, hielt sich den Hals, aus dem es hellrot spritzte, und starrte dem Tier ungläubig hinterher. Bork fiel, vom Auerochsen niedergerannt, Dolph, der ihn warnen wollte, blieben seine Worte in der Kehle stecken, als der Wolf ihn niederwarf und blitzschnell den Todesbiss versetzte.
Es wurde ruhiger. Kaum ein Mensch war noch auf den Beinen, in grotesken Verrenkungen lagen die Leichen der Frauen und Kinder im Dreck.
Der Wolf hielt inne, sofort war er völlig ruhig. Blutdurst war ihm fremd, nur die rasch pumpenden Flanken verrieten seine Anstrengung. War es vorbei? Er blieb auf der Hut, suchte auch jetzt noch instinktiv Deckung und behielt seine Umgebung im Blick.
Prüfend witterte er. Die Luft war schwer von Schweiß, Blut und Pisse, sodass es schwierig war, etwas anderes wahrzunehmen. Seine gelben Augen verengten sich. Mitten im größten Haufen bewegte sich etwas. Ein Kind. Ohne Hast ging der Wolf näher, als sich ein weißer Schatten vor ihn schob.
»Aus dem Weg«, knurrte er.
Shika, die weiße Hirschkuh stand vor ihm. »Es ist genug, Uru. Du hast tapfer gekämpft und gesiegt.«
»Es ist erst vorbei, wenn alle tot sind.«
»Du willst dieses Kind töten?« Das Kind, es mochte fünf oder sechs Jahre alt sein, stand auf. Seine Kleidung war von Blut bedeckt, selbst die gewebte Haube glänzte dunkelrot. Seine Augen waren vor Schreck geweitet und es zitterte am ganzen Leib, doch schien es unverletzt.
»Hätten die Menschen Mitleid? Hatten die Menschen Mitleid?« Auf der Suche nach Mitstreitern blickte der Wolf zu Kraa, der Krähe. Sie war klug, aber sie war ein Aasfresser. Egal, wer kämpfte, sie blieb immer der Sieger. »Du bist auf Shikas Seite, nicht wahr, Kraa?«
Kraa neigte den Kopf und sah zwischen Shika und Uru hin und her. Ihre schwarz glänzenden Augen verrieten nicht, was sie dachte.
Der Fuchs, der nicht weit unter einem Baum kauerte, keckerte. »Na, wenn Kraa dafür ist …«
Uru ging nicht auf seine Bemerkung ein. »Raike!,« wandte er sich an den Fuchs, »Wie viele aus deiner Sippe haben die Menschen getötet, damit sie sich mit eurem Fell schmücken können? Wie kannst du jetzt für sie sein?«
In diesem Augenblick erschien Rokku, der gewaltige Auerochse, und stellte sich demonstrativ neben Shika.
Die Hirschkuh senkte das Geweih.
Der Wolf lachte heiser. »Willst du mir drohen?«
»Verstehst du nicht, Uru? Wenn du das Kind tötest, bist du wie sie. Besudele dich nicht mit dem Blut eines unschuldigen Kindes.«
»Mit Schuld oder Unschuld hat das nichts zu tun.« Der Wolf warf den Kopf zurück und betrachtete die Hirschkuh mit seinen gelben Augen. »Aber, wie ich sehe, hast du dich nicht allzu sehr besudelt, Shika.«
Die Hirschkuh schüttelte ihren Kopf. »Es ist genug!«, rief sie. »Das Töten muss ein Ende haben.«
»Ja. Begreifst du denn nicht?«, knurrte Uru, »Das ist genau der Grund, warum das Kind sterben muss.«
Für Shika war die Diskussion beendet. Die Hirschkuh wandte sich um und stolzierte davon. »Lassen wir sie. Sie soll den Menschen von uns berichten«, sagte sie im Weggehen.
» Berichten ? Damit noch mehr kommen?«, rief ihr der Wolf hinterher. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Verdammte Blätterfresser! Er schwor sich, den anderen Tieren nie wieder zu helfen.
Als er in den Wald trottete, überholte er zahlreiche Rehe und Hasen, nicht wenige bluteten aus vielen Wunden. Viele würden die Nacht nicht überleben.
Für Kraa und ihre Artgenossen war der Tisch reich gedeckt.
Bring das der Großmutter
Stirnrunzelnd stand Sömma am Fenster und blickte missmutig nach draußen. »Bald ist es dunkel. Sie wird doch nicht in den Wald gegangen sein?«
»Nein«, sagte die Mutter ruhig und schnitt weiter Rüben. »Sie weiß, wie gefährlich das ist.«
»Wenn Lilli so weitermacht, findet sie nie einen Mann. Da nützt ihr die ganze Schönheit nichts, ohne Mitgift kein Mann.«
Die Mutter seufzte. Sie kannte diesen Satz. Wie ein Mantra wiederholte sie ihn immer wieder. Davon ließ sie sich auch nicht von Lillis Mutter abbringen, die meinte, das alles käme schon noch.
Die Tante wirkte wenig beruhigt. Stoßartig atmete sie aus, etwas versöhnlicher blickte sie Kleo an. »Immerhin hast du ja noch eine andere Tochter.« Kleo saß in einer Ecke und stickte. Müde lächelte sie der Tante zu.
»Und einen Sohn«, sagte die Mutter scharf.
»Ja, ja. Der gute Björn.« Sie betonte jedes Wort.
Kleo kicherte, dann hielt sie damenhaft die Hand vor den Mund und verstummte.
»Ich dulde nicht, dass ihr in diesem Haus über ihn lacht«, fuhr die Mutter ihre Schwester an. »Das gilt auch für dich, Kleo.« Sie fuhr mit dem Schneiden fort. Ein mundgerechtes Stück nach dem anderen fiel in die bauchige Tonschüssel. »Er mag zwar etwas langsamer sein als andere, aber er ist stark wie ein Bär und er hat ein goldenes Herz.«
Wenn sie aufgesehen hätte, hätte sie bemerkt, wie Kleo die Augen verdrehte, aber wahrscheinlich wusste sie es auch so.
Ach hätte Kleo doch ein wenig mehr von Lilli und die etwas mehr von ihrer großen Schwester, dachte Mutter zum hundertsten Mal. Aber man muss die Menschen annehmen, wie sie sind. Kleo wird ihren Weg machen … und Lilli auch. Irgendwann.
Ein energisches Klopfen an der Tür schreckte sie aus ihren Gedanken.
»Wer mag das sein?«, fragte Sömma und sah sie mit großen Augen an. Die Mutter fragte sich, wovor sie Angst hatte. Aber so war sie immer gewesen; ein ungewohntes Geräusch, das Scheppern eines Fuhrwerks, das durch ein Schlagloch fuhr, der Ruf eines fahrenden Händlers oder das Bellen eines Hundes ließen sie zusammenzucken. Das Bellen eines Hundes sogar in besonderen Maße. Daran waren Großmutters Geschichten sicher nicht ganz unschuldig.
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