In der Küche hat die Magd inzwischen den Ofen angeheizt, denn die klirrende Kälte dringt an jenem Novemberabend durch Ritzen in den strohverstopften Fenstern. An den Strohhalmen hat sich der erste Frost in diesem Jahr gebildet. Der Bauer, seine Mutter und die drei Kinder sitzen eng gedrängt um den Tisch und warten, dass die Magd den Topf mit der Rahmsuppe aufträgt. Sie bereitete die Suppe mit Brotbrocken und getrockneten Pilzen und kochte darin ein großes Stück Speck mit, weil die Kinder gar so traurig sind. Unter normalen Umständen würde das kleine Lieserl Luftsprünge beim Anblick dieser Suppe machen, doch heute nimmt sie die Delikatesse gar nicht wahr. Die Suppe dampft den guten Geruch in die Stube und trotzdem hat niemand Appetit darauf. Die Kerze flackert im Zugwind, der permanent durch die Stube weht, und wirft lange Schatten an die Wand. Die Magd verlässt wortlos den Raum und der Bauer legt den Kopf in seine Hände und betet: „Lieber Gott, bitte nimm uns nicht die Minnerl.“ Der kleinen Lieserl, die mit ihren drei Jahren immer noch an der Mutterbrust hängt, kullern die Tränen übers Gesicht und sie bohrt ihren Kopf in den Schoß ihrer älteren Schwester Kathi, die die Hände von Lieserl und ihrem Bruder Hans fest drückt. Hans´ Gesicht ist verquollen vom vielen Weinen und er schluckt heftig, als er die Worte des Vaters vernimmt.
Der Bauer schöpft sich Suppe in seine Schüssel und nimmt einen ersten Bissen. Lustlos zerdrückt er ein erstes aufgeweichtes Brotstück mit der Zunge am Gaumen. Die Kinder halten schweigsam die Köpfe in den Suppendampf. Lieserl klettert auf Kathis Schoß. Sie kann nicht essen, ihr steckt ein Kloß im Hals. „So geht das nicht weiter“, sagt die Mutter des Bauern nachdenklich und schaut tief ins Gesicht ihres Sohnes. Die Falten um ihre Augen zucken. „Anna!“, ruft sie mit schriller Stimme nach der Magd, die sofort verängstigt in die Stube tritt, den Blick nervös nach unten senkt und die Hände unter ihre löchrige Schürze steckt. „Hat die Minnerl gegessen?“, fragt die alte Frau die Magd und dreht ihr dabei das rechte Ohr zu, da sie auf dem anderen nichts mehr hören kann. „Nein“, erwidert die Magd schüchtern, „auch nichts getrunken. Sie kann nichts behalten. Ihr Körper stoßt alles wieder aus.“ Die Magd wartet etwas unschlüssig im Türrahmen und verlagert ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Nach einer Weile geht sie wieder zurück zum Herd. „Ich muss den Arzt kommen lassen“, murmelt der Bauer und legt sein Gesicht in Falten. Kathis Augen blitzen kurz auf. „Hoffnung für die Mutter“, denkt sie. „Morgen ist der Arzt ohnehin bei der Mutter vom Schmied im Ort. Ich werde den Knecht schicken, dass er bestellt, dass der Arzt nach dem Krankenbesuch dort bei uns vorbeikommt“, brummt der Bauer, legt seinen Löffel nieder und geht seufzend in den Stall, um den Knecht zu suchen. „Esst jetzt, Kinder“, sagt die Mutter des Bauern, als er den Raum verlassen hat und streicht Lieserl über die fettigen Haare, „sonst werdet’s ihr auch noch krank!“. Aus Dankbarkeit ihrer Großmutter gegenüber stecken die Mädchen hastig einige Brotbrocken und Schwammerl in den Mund. Hans´ Magen krampft und er hat das Gefühl, dass er sich aus Angst um die Mutter übergeben muss, doch auch er schlürft artig etwas Suppe.
Der Bauer und seine Mutter legen sich in die Betten, die am anderen Ende der Stube stehen, die drei Kinder teilen sich eine Pritsche, über die ein Laken gespannt ist. Lieserl und Hans rollen sich eng aneinander und fallen sofort in einen tiefen, seligen Schlaf, mit Hans‘ Daumen in Lieserls Mund. Nur Kathi kann nicht einschlafen. Die Luft in der kleinen Stube ist mittlerweile aufgeheizt von der Abwärme des großen Ofens in der Rauchkuchl und feucht von den Suppendämpfen und den Ausdünstungen der vielen Menschen, die darin schlafen. Vorsichtig richtet sich Kathi auf und lauscht andächtig in die leise Nacht. Das Lieserl gibt Sauggeräusche von sich, der Bauer grunzt und schnarcht leise. Im Nebenzimmer hört Kathi ihre Mutter würgen und stöhnen. Kathi hält den Atem an und schleicht auf Zehenspitzen über den knarzenden Holzboden hinüber in die hintere Stube, wo ihre Mutter liegt. Die Luft hier ist kalt und durch das dürftig mit Stroh vermachte Fenster zieht es frostig, als Kathi die Holztür aufschiebt und den kleinen Raum betritt. Der Geruch von Essig sticht Kathi in die Nase. „Anna hat der Mutter Essigpatscherl gemacht“, denkt sie und verzieht das Gesicht. Auf dem rauen, kühlen Holzboden kniet Kathi nieder und nimmt zaghaft die Hand der Mutter zwischen die ihren. Minnerl registriert die Berührung nicht. „Gib nicht auf Mutter!“, sagt Kathi während ihr die Tränen die Wangen hinunterkullern, „Morgen kommt der Arzt.“ Von den Gesprächen aufgeschreckt, flattern einige Hühner auf, die ebenfalls in der hinteren Stube überwintern. Eine Henne ist in ihrer nächtlichen Verwirrtheit auf der Nase eines der vier Schafe gelandet, die neben den drei Ziegen durch den Winter gefüttert werden müssen und die kühlen Nächte ebenfalls mit der Bauersfamilie im Haus verbringen. Die Abwärme der Tiere ist eine Wohltat in solch eisigen Nächten und tröstet einen über den Gestank, der von ihnen ausgeht, hinweg. Das Schaf schüttelt energisch den Kopf und blökt kurz, um den Vogel zu verscheuchen. Kathi, unbeeindruckt von den vielen Tieren, wringt einen Lappen in dem Bottich mit Wasser aus, der neben der Pritsche steht, und legt ihn der Mutter auf die Stirn. Minnerl seufzt kurz auf und sackt dann wieder zusammen. Kathi zieht eine gefilzte, von Erbrochenem verschmutzte Decke hoch bis zum Kinn ihrer Mutter. Minnerl stöhnt und wirft kraftlos den Kopf hin und her. Neben dem Bottich steht noch der Lindenblütentee, den Anna gebracht hat. Kathi nimmt einen Löffel und benetzt die Lippen ihrer Mutter mit dem Tee. „Bitte Mutter“, schluchzt sie mit zitternder Stimme, „ich hab dich doch so lieb. Noch ein Löffel.“ Minnerl schluckt. Noch ein Löffel. Und noch einer. Minnerl schluckt wieder, drückt schwach die Hand ihrer Tochter und schläft dann ein.
Früh am nächsten Morgen, lang bevor die Sonne aufgegangen ist, bricht Knecht Linhart auf und macht sich auf den Weg zum Schmied. Unter dem Arm hat er drei tote Hühner, die er geschlachtet hat, um sie später am Dorfplatz zu verkaufen. „Der Bauer braucht das Geld, um den Arzt zu bezahlen“, denkt er. Linhart ist ein junger Bursch von 16 Jahren und seit etwa drei Jahren Knecht am Hof des Bauern. Sein Vater ist Wagner in Oberwart und hat noch vier andere hungrige Mäuler allein zu versorgen, nachdem seine Mutter vor eineinhalb Jahren einer schweren Krankheit erlag. Da klar war, dass nur der älteste Sohn die Wagnerei übernehmen kann, musste Linhart die Familie verlassen, um für sich selbst zu sorgen. Obwohl das Leben in seiner Familie nicht immer harmonisch verlief, kommen Linhart die Tränen, wenn er an seine Eltern und Geschwister denkt. Er vermisst sie so! Es war nicht immer einfach zu Hause und oft stritten sie sich um das wenige das sie hatten, aber am Ende hielten sie immer zusammen wie Pech und Schwefel. Er schluckt und unterdrückt den Gedanken an sein zu Hause.
Linhart fröstelt in der bitterkalten Morgenluft. Am beinah schwarzen Himmel sind ja noch die Sterne zu sehen! Er zurrt seinen wollenen Umhang enger um den Körper und wandert entlang des Waldes von Jormannsdorf hinauf auf den Sulzriegler Hügel, wo das Haus des Schmieds steht. Schließlich lichten sich die Bäume des Waldes und die Landschaft verwandelt sich immer mehr in ein Sumpfgebiet. Der Weg wird matschiger und Linhart vernimmt das Knatschen des Bodens unter seinen Füßen. Rechts huscht ein Wiesel in die Büsche. Hoch oben in der Tanne ruft ein Käuzchen: „Schuhu! Schuhu!“ Linhart schaudert. Die Sumpfgebiete von Jormannsdorf sind wirklich ein gespenstischer Ort! „Es kommt nicht von ungefähr, dass man sagt, dass hier der Teufel zu Hause ist“, denkt er. Oft hörte Linhart, wie die Bäuerin den Kindern einprägte, ja niemals allein ins Moor zu gehen. Man sagt, es spuke dort und dass das Moor voll unwirtlicher Gestalten wäre. Der Boden hätte schon so manche unschuldige Seele zu sich genommen und nicht mehr frei gegeben. Linhart erinnert sich, dass auch der Jormannsdorfer Pfarrer schon mehrmals in der Sonntagspredigt darauf hinwies, dass das Moor vor allem arme Sünder in sich verschlingen und dem Teufel preisgeben würde.
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