„Allerdings ist Herrn de Groot tatsächlich was dazwischengekommen“, grummelte Robert.
„Weißt du, was ich besonders merkwürdig finde? - Sie haben seit dem 2. Dezember, also mindestens zwei Tage, bevor sie umgebracht wurden, ihren AB nicht mehr abgehört.“
„Oder sie wollten absichtlich mit dem Drohanrufer nicht direkt sprechen“, bemerkte Jan. „Ich packe den AB ein. Da muss ein Experte ran. Immerhin ist das eine heiße Spur.“
Robert nahm seine Brille ab. „Ich glaube, wir sollten jetzt Erik de Groot einen Besuch abstatten. Du hast doch die Anschrift von der Klinik, oder?“ Jan nickte. „Hier stören wir ja doch bloß“, stellte Robert fest.
Obwohl Twistringen nur etwa sechsundzwanzig Kilometer vom Haus der de Groots entfernt lag, benötigten sie fast sechzig Minuten bis zur Klinik, da die Nebenstraßen völlig vereist waren und obendrein auf halber Strecke eine ausgerückte Feuerwehr damit beschäftigt war, einen entwurzelten Baum zu entfernen, der die Fahrbahn blockierte. Robert stieg mit dem Hund aus und ließ ihn am Feldrain pinkeln, dann unterhielt er sich noch kurz mit einem der Feuerwehrmänner. Jan hatte die Fahrtunterbrechung genutzt, um über Erik de Groot im Internet zu recherchieren. Er stieß auf einige Namensvetter, die er aber gleich wieder wegklickte. Dann aber entdeckte er auf ein paar spärliche Blog-Einträge, die sich inhaltlich hauptsächlich mit betriebswirtschaftlichen Themen beschäftigten und von einem Studenten der Rijksuniversiteit Groningen herausgegeben wurde. Darin tauchte sein Name gleich mehrfach auf, immer im Zusammenhang mit irgendwelchen Master's degree programmes, Economics, Business and Environment und ähnlichen Schlagwörtern. Facebook und andere soziale Netzwerke schien Erik zu meiden. Was irgendwie für ihn sprach , dachte Jan. Ein Foto von Erik war nirgendwo im Netz zu finden.
Als sie den Parkplatz vor dem Klinikum erreicht hatten, fiel Robert noch eine Frage ein: „Sag mal, was hältst du eigentlich von dem anonymen Drohanruf auf dem AB?“ Jan schaltete seinen Tablet-PC aus und verstaute ihn in einem Etui.
„Ich weiß nicht genau, was dieses ‚Wir werden dich und deinesgleichen bestrafen!‘ zu bedeuten hat.“
„Ich musste gerade daran denken, was Hinnerk Bloemer heute früh gesagt hat. Er sprach davon, dass die Familie de Groot nicht nur Freunde hatte, sondern dass hier im Landkreis sogar einige Leute gegen ihre Geschäftspraktiken protestiert haben sollen“, meinte Robert und legte die Stirn in Falten, schürzte die Lippen und war so in Gedanken versunken, dass er das Geräusch vom Rücksitz des Wagens gar nicht wahrnahm. Erst als Wim anfing, die Lefzen hochzuziehen und dabei knurrend ein- und ausatmete, drehte er sich um.
„Was geht denn jetzt los?“, fragte Jan entsetzt und warf einen ängstlichen Blick über seine Schulter.
„Der Hund muss irgendwas wahrgenommen haben, was ihn beunruhigt.“
Sie blickten sich ein paar Sekunden lang hilflos um und entdeckten dann die Ursache für Wims Verhalten. Etwa zwanzig Meter von ihrem Fahrzeug entfernt lief ein Mann in schwarzem Anzug und weißem Kollar am Kragen über den Parkplatz und kam direkt auf sie zu. Es war ein Geistlicher der römisch-katholischen Kirche, der zum Tragen einer solchen Kleidung verpflichtet war. Der hagere Mann ging wie auf Eiern über das Glatteis und fuchtelte dabei mit seinen Armen herum.
„Offenbar irritiert Wim sein komischer Laufstil“, meinte Robert.
„Will der was von uns?“, fragte Jan.
Doch der hagere Geistliche lief achtlos an ihrem Wagen vorüber und lenkte stattdessen seine unsicheren Schritte gezielt in Richtung eines in der Nähe parkenden Mercedes GLK. Der schwarze Geländewagen hatte dunkel getönte Scheiben, sodass sie nicht erkennen konnte, ob noch jemand mit im Fond saß.
„Eins muss man denen ja lassen“, bemerkte Robert sarkastisch, „sie verstehen was von Autos.“
„Das ist kein Auto“, meinte Jan, „das ist ein Stadtpanzer.“
Kaum war der Geistliche eingestiegen, fuhr der Geländewagen auch schon vom Parkplatz und schlug genau jene Richtung ein, aus der sie soeben gekommen waren.
„Was macht wohl ein römisch-katholischer Priester in einer Psychotherapeutischen Klinik?“, fragte Jan und notierte sich gleichzeitig auf einem Notizblock das Kennzeichen des Wagens. Seine Frage verursachte jedoch bei Robert nur ein mitleidiges Schmunzeln.
„Wir sind hier in Südoldenburg, Jan, schon vergessen? Die katholischen Kleriker haben hier das Sagen. Vermutlich gehört ihnen sogar die Klinik.“
Wim hatte sich inzwischen wieder beruhigt. Er rollte sich auf seinem Platz auf der Rückbank des Wagens zusammen, spitzte aber weiterhin die Ohren.
***
Dr. med. Gernot Knick war Therapeutischer Leiter der Klinik und zugleich Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Er erweckte rein körperlich eher den Eindruck eines aus dem Leim gegangenen Marlon Brando. Sein Gesicht war schwammig und sein Händedruck lau. Dafür verrieten seine dichten Augenbrauen ein recht durchsetzungsfähiges Naturell. Er erwartete die beiden Kriminalbeamten bereits in seinem Dienstzimmer. Nachdem sie einander vorgestellt waren und Robert sich nach dem Befinden Erik de Groots erkundigt hatte, begann er sofort wie ein Wasserfall zu reden: „Sie müssen das folgendermaßen betrachten. Unser Patient, Herr de Groot, war erst gestern einer sehr belastenden Situation ausgesetzt. Der Beginn einer akuten Belastungsreaktion setzt üblicherweise mit dem Erleben einer solchen schwierigen Situation ein. Diese Reaktion kann Stunden bis Tage andauern, in schweren Fällen sogar Wochen. Bei Erik de Groot liegt eindeutig ein solcher schwerer Fall vor …“
„Und das bedeutet?“, unterbrach ihn Robert.
Aber der Mediziner schnaubte nur verächtlich und setzte nach einem Atemzug seine Aufklärungskampagne ungehindert fort: „D-a-b-e-i unterscheiden sich die Symptome in der Akutphase von denen der anschließenden Verarbeitungsphase. Halten die Symptome der Verarbeitungsphase länger als vier Wochen an und liegt eine psychische oder soziale Beeinträchtigung vor, dann sprechen wir von einer posttraumatischen Belastungsstörung, bei der es sich dann zweifelsfrei um eine schwere therapiebedürftige Erkrankung handelt.“
Robert hakte noch einmal ein: „Ist denn Herr de Groot schon in der Verfassung, uns einige wenige Fragen zu beantworten?“
Ohne wirklich auf Roberts Frage einzugehen, fuhr er fort: „Eine akute Belastungsreaktion ist häufig durch eine vielfältige, oft rasch wechselnde Symptomatik gekennzeichnet. Sehen Sie, sie kann mit Desorientiertheit, Bewusstseinseinengung, aber auch mit innerer Distanzierung zu dem Erlebten einhergehen. Manche Betroffene sind daher unfähig, dass Geschehene in Worte zu fassen oder haben eine vollständige Erinnerungslücke.“
Dr. Knick wirkte gleichzeitig überdreht und erschöpft, was auf zu wenig Schlaf und zu viel Koffein hindeutete.
„Herr Dr. Knick. Wollen Sie damit andeuten, dass ihr Patient, Herr de Groot, unter einer vollständigen Erinnerungslücke leidet?“
War die Gesprächsatmosphäre bislang schon angespannt gewesen, war sie nun regelrecht aufgeladen. Der Mediziner leckte sich über seine trockenen Lippen und schüttelte seinen Kopf. „Nein, Sie dürfen das nicht missverstehen, Herr Kommissar. Ich wollte Ihnen nur klarmachen, dass sich der Patient im Moment gerade in einer äußerst prekären und schwierigen Verarbeitungsphase befindet. Und genau in dieser Phase kommt es oft zu einer Intrusion der Ereignisse, also dem Eindringen des Erlebten.“
Jan hatte das Gefühl, dass die Stimme des Mediziners von weit herkam. Der Mann redete weiter und strich sich dabei mit einer Hand über die Stirn.
„Das kann in Form von Albträumen oder auch als Flashbacks geschehen. Diese Flashbacks werden häufig von Wahrnehmungen, die an die belastende Situation erinnern, ausgelöst. Es könnten beispielsweise Gerüche oder Geräusche sein, zum Beispiel der Geruch von verbranntem Fleisch - aber auch schon eine Ihrer Fragestellungen könnten diesen Zustand auslösen, was natürlich fatale Folgen für den Patienten hätte, wenn Sie verstehen.“
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