Sandy, der Schrecken aller Hunde. Ihr Revier: der Rasen und alle Gebäude des Wohnheims. Nach meiner Flucht habe ich sie dann rüber geholt in die Naunynstraße. Durch die DDR durfte man auf der Transitstrecke keine Tiere transportieren. So wurden dann Möbel transportiert, Sandy versteckt in einer Schublade hinter alten Lappen und Büchern. Dreimal anhalten auf der langen Strecke und ihr Baldriantropfen einflößen, aber es hat geklappt, sie hat ihren Mund gehalten bei der Kontrolle der Vopos.
Es folgten jetzt drei Jahre Berlin und es ist schwierig eine stinklangweilige Zeit mit begeisternden Worten zu schildern.
Mein Abitur habe ich bestanden. Anne lebte mit mir. Wir fanden eine neue Wohnung nur hundert Meter entfernt von der Naunynstraße, Oranienstraße 172, eine große Wohnung. Anne hatte ein Russisch - Studium begonnen und ich landete in der Psychologie, als Student im Psychologischen Institut in Schöneberg.
Waldvogel – weitreichende Folgen:
Einmal bin ich zu einer dieser Russischen Partys mitgegangen, veranstaltet von ihren Kommilitonen. Das waren alles nur langweilige Leute und einmal war genug für mich, sie konnte dann in Zukunft alleine gehen.
Eines Sonntagmorgens, Anne war erst früh von einer ihrer Partys zurückgekehrt, traf ich sie in der Küche, sie konnte immer noch nicht schlafen, war die ganze Nacht ganz aufgedreht von dem Gespräch mit einem Typen. Und sie musste mir auch alles in Einzelheiten erzählen. Ein Typ namens Waldvogel, ein Schweizer Astrologe, der wohl von Party zu Party zog und so seinen Lebensunterhalt bestritt.
„Ich habe sofort ein Horoskop bei ihm bestellt. Dauert nur drei Tage und kostet nur 20 Mark. Mach doch auch eins. Wäre vielleicht gut für uns.“
Ein Horoskop, was für einen Mist. Ich war links, Sponti, ganz sicher nicht an Sterne glaubend.
„Wir können das dann zusammen machen, dann braucht er nur einmal herkommen.“
Ich bereitete den nächsten Tee in der Küche und wartete, dass das Wasser kocht. Nur ein paar Tage zuvor hatte ich mein BAföG bekommen. Sie war so aufgedreht. Warum eigentlich nicht? Sind ja nur 20 Mark.
Ich musste meine Mutter noch in dieser Nacht anrufen, weil Waldvogel auch die Geburtszeit wissen wollte. Anne rief ihn dann an und ja, er würde in drei Tagen kommen. Er betrat dann auch unsere Wohnung an dem vereinbarten Abend, etliche Bücher unter dem Arm, wohl vorbereitet, auf unsere Horoskope. Ich wollte es einfach nur schnell hinter mich bringen, es war Anne die den ganzen Tag schon darauf gespannt wartete, etwas über sich zu erfahren.
Deshalb mich zuerst und das schnell. Wir saßen auf dem Teppichboden, und die nächsten zwei Stunden habe ich kein Wort mehr gesagt. Was dann folgte, darauf war ich nicht vorbereitet. Er redete nur über mich. Dabei konnte er nichts über mich wissen. Anne hatte ihm nichts erzählt, wir hatten uns vorher nie getroffen. Und trotzdem, er wusste alles über mich. Er sagte mir, wann mein Vater gestorben war. Korrekt. Erzählte mir, dass meine Großmutter mich regelmäßig bis zum siebten Lebensjahr geschlagen hat. Korrekt. Das meine wunderschöne Freundin M. aus Herten, fast im Krankenhaus in Marl gestorben ist, und wann das war. Korrekt.
Sie hatte tatsächlich einen Blinddarmdurchbruch. Dreimal musste ihre vernähte Narbe wieder geöffnet werden um den Innerraum nochmals zu säubern. Aber es half nichts bis zu der Nacht in der wir alle an ihr Bett gerufen wurden, weil sie sterben würde, so die Ärzte. Aber sie sollte die Nacht überleben. Korrekt.
Er erzählte mir alles über mich, was niemand wissen konnte. Zwei Stunden habe ich ihm zugehört, danach in der Küche gewartet bis Anne mit ihrer Sitzung fertig war.
Ich war schockiert, hatte diese akkuraten Aussagen über meine Vergangenheit nicht erwartet. Auch Annes Zeit war um und wir alle tranken Tee auf unserem Teppichboden. Und jetzt hatte ich natürlich Fragen. Vor allem wie er das alles wissen konnte? Seinen Erklärungen konnte ich nicht so richtig folgen. Aber wenn er so korrekt sein konnte mit der Vergangenheit, dann musste er uns etwas über unsere Zukunft sagen. Natürlich hat er sich mit allen möglichen Argumenten gesträubt, aber zwei Leuten gegenüber, die wissen wollte und auch nicht lockerließen, da gab er dann schließlich nach und zog auch eine Kladde aus seiner Tasche heraus. Er hatte sich sogar auf unsere Zukunft vorbereitet.
Was er Anne erzählte, kann ich mich nicht erinnern. Aber auch an rein gar nichts.
Was er mir sagte:
1) In zwei Jahren werde ich Deutschland im Februar verlassen. Diese Reise wird mein ganzes Leben andauern. Ich werde in vielen Ländern leben. Ich werde fast mein ganzes Leben außerhalb Deutschlands verbringen, nur manchmal für kürzere Zeiten zurückkommen. Ich werde in einem fremden Land sterben.
2) Der Höhepunkt meines Lebens ist mit 47. Danach würde meine Lebensenergie langsam zurückgehen.
3) Sehr spät in meinem Leben werde ich eine junge Frau heiraten. Sie könnte so um die 18 bis 20 Jahre alt sein.
4) Mit 55 wird ein Erlebnis mein Leben gründlich durcheinander bringen. Es kann eine Bombe sein, oder auch ein großes Feuer. Ich werde alles verlieren, was ich besitze. Aber mir wird nichts geschehen. Auch den Menschen die nahe bei mir sind wird nichts geschehen. Dieses Ereignis wird nur für eine Weile für ein großes Chaos in meinem Leben sorgen.
Ich hab den Typ heute immer noch vor Augen, wie er da vor mir sitzt und mir diese Punkte aufzählt, fast genauso wie ich sie hier wiedergebe. So gut er mit seinem Horoskop gewesen war - diese Vorhersagen waren totaler Blödsinn. Einen Bombenanschlag auf mein Leben. Als alter Mann eine 18 jährige heiraten, haha, schön wär‘s, will ja wohl jeder alte Mann. Deutschland für mein ganzes Leben zu verlassen, das konnte gar nicht sein. Wollte schließlich mein Psychologie - Studium abschließen, dann noch weiter lernen und als Psychologe arbeiten.
Nachdem er dann gegangen war, haben Anne und ich noch einigen Stunden darüber diskutiert, aber am nächsten Tag ging einfach der normale Trott weiter, man konzentrierte sich aufs Studium, und Waldvogel war vergessen.
Ende des zweiten Jahres in Berlin war dann auch unsere Beziehung zu Ende. Sie zog in eine kleine Wohnung, Eisenacherstraße, und einige Monate später hatten wir den Kontakt ganz verloren.
Da ich ja nun mein Abitur mit so einer guten Note in der Tasche hatte, standen mir eigentlich alle Studien offen, und ich Idiot wähle Psychologie, eine Einsicht die mir erst viel später kam.
Ich wollte Menschen helfen, die Gesellschaft verändern, Menschen in ihrem tiefsten Inneren verstehen lernen, Frieden und Liebe für die Welt und da bot sich die „Kritische Psychologie“ an - am Institut in Schöneberg.
Neben den Uralt - Psychologen, Freud, Jung, Skinner, wurde zu mindestens auch das Kapital von Karl Marx sowie Trotzki und Lenin angeboten. Allerdings kein Reich, das war dann wohl zu links für die beiden Professoren Holzkamp und Osterkamp, Überbleibsel der Studentenbewegung 1968/69.
1976 habe ich begonnen mit vielen, vielen Hoffnungen in die Zukunft und ins Studium. Aber die Realität war leider ganz anders. Ich habe zwar alle Scheine gemacht die man brauchte, aber verstanden habe ich wenig. Ich fühlte mich eigentlich am falschen Platz. Ich war einfach so ruhig und auch irgendwie eingeschüchtert, und fühlte mich richtig blöd. Jeder um mich herum sprach einfach fürchterlich intellektuell.
Mehr als zwei Jahre dieses Studiums, ich hatte viel gelernt, nicht viel über Psychologie aber viel über die Fähigkeit intellektuell zu reden wie alle anderen. Was sollte ich mit diesem Studium anfangen? Leuten helfen? Ich fühlte mich unfähiger und blöder als zu Beginn des Studiums. Erwog sogar schon alles hinzuschmeißen und ein anderes Studium neu zu beginnen.
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