1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Als Sibel den Raum betrat, lag der Patient mit der Patientennummer 251011M9 ruhig auf seiner Matratze und starrte an die Decke.
»Hallo«, flüsterte Sibel, als sie sich auf einen Stuhl neben seinem Bett niederließ. Zu ihrer Verwunderung antwortete der verwahrlost aussehende Mann postwendend.
»Hallo, junge Frau.«
»Was ist mit Ihnen passiert?«, fragte Sibel vorsichtig.
»Pssst!«
»Wie heißen Sie? Kennen Sie ihren Namen?«, versuchte sie es erneut.
»Nenn mich Löwenherz«, antwortete der sich gewählt ausdrückende Mann Anfang 50. Er trug einen weißen Oberlippenbart und weißes, halb langes und leicht gelocktes Haar.
»Richard? Sie heißen Richard?«
»Pssst! Löwenherz!« Der Atem von Patient 251011M9 roch unangenehm und streng nach Medikamenten. Sibel wurde von einer leichten Übelkeit erfasst, als er sich näher zu ihr beugte.
»Sie können sich an nichts erinnern?«
»Pssst! Ich bin nicht blöde!« Löwenherz rollte die Augen und setzte sich auf. Sibel zuckte automatisch zurück. Ein Reflex.
»Pssst! Ich bin harmlos. ICH bin harmlos!!! Die denken, sie haben es geschafft. MICH geschafft! Doch ich bin noch nicht ganz meschugge!«
»Was meinen Sie?«, fragte Sibel mit angespanntem Unterton in der Stimme.
»Ich habe Dinge gesehen, die glauben Sie nie. NIE! NIEMALS!«
»Was ist geschehen?«
»Die haben mich vollgepumpt. Mit Psychopharmaka abgeschossen, den totalen Gedächtnisverlust provoziert. Dann haben sie mich ausgesetzt, auf die Straße. Wollten einen Penner aus mir machen. Doch bevor sie dazu kamen, habe ich meine eigene Gegentherapie eingeleitet! Weißt du, ich bin selbst Arzt. Ein Professor! Jedes Mittel hat sein Gegenmittel! Auf diese Weise habe ich mich gerettet«, antwortete er, indem er die Augen nach oben drehte und die Stirn krauszog. Irre , dachte Sibel.
»Was ist passiert, Richard?«
»Psst! Löwenherz«, keuchte Nummer 251011M9.
»Ich habe zwei, drei Tage auf der Straße gelebt. Ich weiß nicht mehr genau! Weiß gar nichts mehr! So hat es sich jedenfalls angefühlt – und so habe ich auch gestunken.«
»Hmm ...«, antworte Sibel leise und bot ihm einen Plastikbecher mit Wasser an.
»Doch schau dir meine Hände an. Sind das die Hände eines Mannes, der auf der Straße lebt?«
»Was ist passiert?«, fragte Sibel geduldig weiter.
»Ich weiß selbst nicht so genau. Ich habe Lücken. Bilder kommen hoch. Sie bedrohen mich! Ich erinnere mich an meinen Beruf. Ich bin Arzt. Ich weiß allerdings nicht mehr, wo ich wohne. Ob ich verheiratet bin. Ob ich am Wochenende zu Chelsea oder Arsenal gehe! Doch ich bin guter Dinge, dass mein Gedächtnis zurückkehrt.«
»Löwenherz, sie sprachen davon, dass sie bedroht werden. Wer sind SIE?« »Psst! Um Gottes willen!!! Wenn die wissen, dass ich mein Gedächtnis zurückgewinne, bin ich verloren!!! Und jedem, dem ich erzähle, was ich weiß, muss auf der Hut sein!«
»Und?« Sibel ließ Löwenherz Zeit. Sie fühlte, dass er sich einiges von der Seele reden wollte.
»Sie sind gefährlich. SIE kontrollieren alles. Unsere Gedanken ... die Börsen ...«
»Wer sind SIE?« Sibel ließ nicht locker. Sie wusste, dass sie Löwenherz nur helfen konnte, wenn der Erinnerungsprozess wieder in Gang gesetzt wurde.
»Ich weiß es nicht! Man wollte mich in Italien engagieren, eine Testreihe an Kindern durchzuführen – mit nicht freigegebenen Pharmazeutika. Medikamente zur Gehirnmanipulation: Die Bezahlung war zu verführerisch! In einem Monat, ein komplettes Jahresgehalt! Wer kommt da nicht in Versuchung? Doch, als ich diese Kinder sah, da habe ich mich geweigert!«
»Mein Gott«, entfuhr es Sibel.
»Es waren doch noch Kinder«, schluchzte Löwenherz.
Sibel legte ihm eine Hand auf die Schulter:
»Ich behalte all das erst einmal für mich.«
»Ich weiß«, hauchte Richard Löwenherz. »Ansonsten hätte ich Ihnen auch nichts erzählt. Man spürt schließlich, wem man vertrauen kann. Selbst Ihnen als Frau, traue ich!«
Als Sibel die Tür schloss, starrte Patient 251011M9 bereits wieder zur Decke. Retrograde Amnesie , murmelte sie und schüttelte den Kopf. Sibel wurde neugierig. War Löwenherz ein neuerlicher Beweis dafür, dass die dunklen Mächte ihre weltweite Manipulation vorantrieben? Seit ihrem Schicksalsschlag in Neuseeland vor mehr als sechs Jahren, sammelte sie abnorme Vorkommnisse und Ungereimtheiten, die sich täglich rund um den Erdball ereigneten: Umwelt, Medizin, Börse und Politik. Es vergeht keine Stunde, in der nicht irgendwo auf der Welt Menschenrechte mit Füßen getreten werden und skrupellose Machthaber sich die Taschen vollstopfen, dachte sie. Die Lobby der Arzneimittelindustrie, die mit Apothekern und Ärzten unter einer Decke steckt, um zum Beispiel Antibiotika wie Fassbrause zu verabreichen, ist nur ein kleines, wenn auch fatales Beispiel. Mittlerweile sind die Keime resistent! Ein Hoch auf den Fortschritt, murmelte sie.
Solche Gedankengänge beschäftigten Sibel unablässig. Unter Freunden wurde sie als Verschwörungstheoretikerin belächelt. Doch waren Jans Tod und die Vernichtung des Hospitals wirklich Zufall? Und war es nicht ihre eigene Mutter gewesen, die ihr geraten hatte, immer einen Blick über die Schulter zu werfen? Und was hatte die Aussage von Löwenherz zu bedeuten „auch wenn Sie eine Frau sind. “
»Ist er ein Frauenhasser? Hat er schlechte Erfahrungen gemacht? Sind SIE, Frauen? Was hat Vici dir damals über diese Sekte, dieses Matriarchat erzählt? Denk nach!« Die Fragen laut vor sich hinmurmelnd, begab sich Sibel auf Kontrollgang. Alles schien ruhig, keine besonderen Vorkommnisse.
Als sie das Pflegerzimmer schließlich wieder betrat, zog sie die Schuhe aus, streckte sich auf der Liege aus und legte den Piepser für etwaige Notfälle in Reichweite. Sie fiel in einen unruhigen Schlaf.
2011 - 17.4., 19:00
Großbritannien,
London, Kensington,
Stratford Road
Szene 29
Innenaufnahme: Apartment Sibel. Sibel, ihre langen, gelockten Haare zum Zopf gebunden, schiebt einen Hoover durch ihr Einzimmer-Apartment. Sie trägt ein schwarzes, knielanges T-Shirt mit dem Aufdruck 'Ramones'. Darunter schauen die langen Beine im naturbraunen Teint der Südländerin hervor. Sie wirft einen Blick auf den Digitalwecker und legt einen Zahn zu, indem sie mit dem Hoover in die Ecken kurvt. Die weiße Schlafcouch ist drapiert mit wahllos verstreuten Klamotten. Über dem Flachbildschirm hängt ein BH und in der Spüle stapelt sich das schmutzige Geschirr der letzten beiden Tage.
Sibel hatte sich ein wenig gehen lassen.
Drei freie Tage am Stück sind ein Traum , murmelte sie entspannt. In einer Stunde würden die Jungs auftauchen. Sibel hatte sie zum Essen eingeladen und lange überlegt, was sie auftischen würde. Schließlich war sie Vegetarierin. Zwei Monate hatte sie überdies vegan gelebt; am Ende jedoch festgestellt, dass der Verzicht auf Milchprodukte für sie nicht in Frage kam. Sie entschloss sich schließlich dazu, Spaghetti mit Pinien Pesto sowie einen Waldorfsalat aufzutischen. Nudeln gehen immer, dachte sie und schaute auf die Uhr. Es wird Zeit, und unter die Dusche muss ich auch noch, stöhnte sie.
Steve trug Schuld, dass sie in Zeitnot geraten war. Ihm war nach einem Schwätzchen und er wollte partout nicht auflegen. Wir sehen uns später, hatte Sibel ihn schließlich nach fünfzehn Minuten abgewürgt.
Verrückt, mit Steve hatte sie telefoniert, doch ihre Gedanken waren bei Mikel. Sibels Blick verdunkelte sich, als das Telefon erneut läutete. Verdammt, was ist denn heute los, fluchte sie und nahm das Gespräch an.
»Hi hier ist Bob! Bist du das Sibel?«
»Wer sonst«, antwortete Sibel eine Spur zu schroff.
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