Nein! Weiter! Sie rannte los und brach plötzlich aus dem Wald, war am Seeufer angelangt, lief um die Landspitze. Dort, der Bach! Sie hielt keuchend inne und lauschte. Außer dem Rauschen des Regens war nichts zu hören.
Entschlossen sprang sie in den Bach, überrascht, wie tief er war. Das eisige Wasser schwappte in ihre Stiefel. Die Strömung, unerwartet stark, zog an den Beinen. Schwankend watete sie den Wasserlauf hinunter, rutschte auf den glatten Kieseln im Bachbett aus, hielt sich aber aufrecht. Ab und zu blieb sie stehen und lauschte, hörte aber nur den Regen und das Gurgeln des Baches. Ihr Herz raste und ihr Atem ging vor Aufregung und Anstrengung keuchend.
Nun gab es keine Ausrede mehr, falls man sie stellte. Sie war auf der Flucht.
Sie hatte aus gutem Grund bis zum frühen Morgen gewartet, konnten die Vampire sie doch bei Tageslicht nicht verfolgen. Falls sie ihre Flucht schon bemerkt hatten, mussten sie die Verfolgung bald abbrechen.
Hektisch stapfte sie voran. Ihre Füße waren im kalten Wasser taub geworden. Sie war durchnässt, denn ihr schwerer Umhang hatte den Regen nicht abgehalten. Aber sie beachtete diese Unannehmlichkeiten nicht, sie wollte nur weiter, wollte so viel Entfernung zwischen sich und die Festung bringen wie möglich.
Als der Regen endlich nachließ, hörte sie in der Ferne das befürchtete Gebell der Hunde und die Rufe der Jäger. Ihre Flucht war entdeckt! Panisch sah sie sich um. Sie musste sich verstecken!
Die alte Eiche kam wie gerufen. Hastig ergriff sie einen der dicken Äste, die über dem Bach hingen, und kletterte über ihn nach oben in die Krone des Baumes, wo sie sich an den nassen Stamm klammerte. Über den Berggipfeln sah sie zu ihrer großen Erleichterung die erste Morgenröte, ein intensives gelbes Licht, das durch die Regenwolken brach und sie rot färbte. Sie flehte die Götter an, den Sonnenaufgang zu beschleunigen.
Wieder hörte sie Gebell, aber es erschien ihr leiser als vorher. Jemand rief und pfiff. Auch das klang gedämpfter. Sie stieß erleichtert die Luft aus, die sie angehalten hatte. Die Jäger kehrten zur Festung zurück.
Erst als die Sonne hoch am Himmel stand, wagte sie sich vom Baum hinunter in den Bach und öffnete den Umhang, damit die warmen Strahlen ihre Kleidung trockneten. Sie hielt jedoch nicht inne, watete eilig im Bachbett entlang. Bis zur Nacht musste sie weit weg sein!
Um die Mittagszeit setzte sie sich auf einen Felsen in der Bachmitte, trank etwas Wasser und aß einige Nüsse. Sie legte eine Hand auf den Bauch. »Wir schaffen das, wir zwei«, flüsterte sie. »Wir gehen zum Haus des Bundes der Ewigen, du und ich.«
Sie rastete noch ein wenig, dann stapfte sie weiter. Die Sonne wanderte über den Himmel und senkte sich schließlich über den Gipfeln zur Erde.
Sie musste ein Versteck für die Nacht finden. Am Ufer sah sie eine Buche, deren Äste tief hingen. Sie stapfte hin, ergriff einen Ast und zog sich auf ihn. Der Ast knackte, aber er hielt. Sie balancierte zum Stamm und kletterte nach oben, wo sie einen breiten Ast fand, auf dem man sie vom Boden aus nicht sehen konnte. Aufatmend lehnte sie den Rücken an den Stamm, trank aus dem Lederschlauch und aß ein wenig Trockenfleisch und Käse. Ihr war übel und so zwang sie nur das Notwendigste an Nahrung in sich hinein.
Nach dem Essen schloss sie die Augen und versuchte, sich etwas auszuruhen. Das schlug gründlich fehl. Sie war angespannt, dachte an die Hunde und die Jäger, zuckte bei jedem Geräusch, das aus dem Wald kam, zusammen. Der Schrei eines Uhus. Ein Tier, das durch Gebüsch brach. Aber keine Rufe, kein Gebell und kein Hufschlag.
Am nächsten Morgen weckten sie die warmen Strahlen der Sonne. Sie lauschte nach Verfolgern, hörte aber außer dem Gesang der Vögel nichts. Nach einem Mahl aus Nüssen, Wasser und Brot watete sie weiter.
Jetzt, wo die Angst vor ihrer Gefangennahme nachließ, wanderten ihre Gedanken zu Maksim. Ihre Hand berührte die silberne Kette. Wie es ihm wohl erging? Was hatte er gedacht, als er von ihrer Flucht erfuhr? Ihr Herz verkrampfte sich. Er würde es nicht verstehen, wusste er doch nicht, dass sie guter Hoffnung war. Er würde vielleicht sogar denken, dass sie ihn ausgenutzt hatte, dass ihre Liebe nur vorgespielt gewesen war!
Jetzt konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. »Oh, Maksim!«, schluchzte sie. »Ich liebe dich doch!« Wieso hatte sie ihm keine Erklärung auf einem Stück Pergament hinterlassen? Würde sie ihn jemals wiedersehen? Falls ja, würde er ihr verzeihen? Sollte sie nicht doch zurückgehen? Die Strafe für die Flucht auf sich nehmen, damit sie bei ihm sein konnte? Sollte sie wirklich weitermachen? Es war der Gedanke an ihr Kind, der die Tränen versiegen ließ. Ja, wäre sie nicht guter Hoffnung gewesen, hätte sie kehrtgemacht. Aber das konnte sie nicht, nicht, wenn man Maksims Kind töten würde! Schließlich spritzte sie sich ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht und konzentrierte sich auf ihre lange Reise durch die Berge, die gerade erst begonnen hatte.
In der nächsten Nacht hörte sie in weiter Ferne Gebell und Rufe. Sie betete zu den Göttern, dass ihre Verfolger nicht näherkamen. Die Geräusche vergingen. Es war das letzte Mal gewesen, dass sie ihre Verfolger hören sollte. Am Tag darauf setzte sie ihren Weg am Ufer anstatt im Bach fort, da das Wasser zu tief geworden war, um darin zu waten. Nun kam sie schneller voran und stand am späten Nachmittag auf einem Bergrücken, unter sich ein Tal, in das der Bach als Wasserfall stürzte und sich dort weiter schlängelte. Es gab im Tal keinen Wald und sie beschloss, auf einem der Bäume hier oben zu nächtigen.
Nicht weit von ihr wuchs eine knorrige Eiche, die sie erkletterte. In der Baumkrone fand sie zwei nebeneinander wachsende Äste, auf denen sie leidlich bequem saß. Durch die Blätter sah sie den Himmel und nach Sonnenuntergang die Sterne. Nach einem Essen aus dem langsam hart werdenden Brot und Käse döste sie ein.
Stimmen rissen sie wenig später aus ihrem erschöpften Schlummer. Ihr Herz klopfte. Sie war nicht mehr allein! Vorsichtig lugte sie nach unten. Es waren Menschen, keine Vampire, die nahe der Eiche haltmachten. Ein Mann und eine Frau. Sie trugen einfache verschmutzte Kleidung und Reisebündel.
»Keine Höhle, um uns zu verstecken!«, keifte die Frau. »Du und deine Pläne! Von wegen ›ich kenn’ mich hier aus‹! Wir haben uns verlaufen und wir haben kein Versteck!«
»Jetzt kreisch’ nicht so rum!«, knurrte der Mann. »Deswegen sind wir doch aus dem Tal hier hochgeklettert! Damit wir Gefahren von Weitem erkennen können!«
»Ach ja? Aber auf die Idee, dass die Gefahr hier im Wald lauert, kommst du nicht, oder?«
Der Mann warf sein Bündel auf die Erde. »Blödsinn«, sagte er. »Hier ist es einsam. Es gibt keine Vampire hier.«
»Woher willst du das wissen? Aber egal, wir verhungern ja sowieso! Weil du den Rest unseres Proviants vertilgt hast!«
»Stell dich nicht so an! Dann essen wir eben Beeren oder so was.«
Rodica zog vorsichtig den Kopf zurück. Sie würde sich nicht zu erkennen geben. Der Mann und die Frau hatten sich verirrt und nichts Besseres zu tun, als nachts im Gebiet der Stämme lauthals zu streiten. Sie hielt still, versuchte, sich nicht zu bewegen, damit die beiden nicht auf sie aufmerksam wurden. Doch die waren viel zu beschäftigt mit ihrem Streit. Rodica erfuhr, dass sie nach Insan, einer der Städte nördlich des Qanicengebirges, wollten. Dass der Mann ein Versager und Säufer war. Dass ihre Mutter sie vor ihm gewarnt hatte. Die Frau wiederum, so der Mann, sei nur hinter seinem Gold her gewesen. Könne nicht haushalten, weswegen sie ebendieses Gold und ihr kleines Feld verloren hätten.
Die Frau schnaubte verächtlich. »Du hast das Feld versoffen, gib es doch zu! Und welches Gold willst du denn gehabt haben?« Sie lachte schrill auf. »Glaube mir, wenn es in unserem Weiler einen Kerl mit Gold gegeben hätte, würde ich jetzt nicht hier mit dir sitzen!«
Читать дальше