Die Fahrt wurde langsamer, die Ankerkette rasselte, dann schwiegen die Kolben und das Schiff stand. Weit vor der Insel. Was nun? Aber schon kamen kleine Motorboote, und gingen längsseits, um die Landratten zur Felseninsel überzusetzen. „Die heißen ‚Börteboote’ informierte der Hamburger, „und die Insel auch ‚Das Heilige Land’, wegen des guten Klimas.“ Er selbst blieb bis Sylt an Bord, wo er seinen Urlaub gebucht hatte. Das Ausbooten machte viel Spaß, den älteren weniger. So manches „Huch!“ entfuhr den älteren Damen, die dann todesmutig am Arm von abgehärteten Seebären den Sprung in das schwankende Boot wagten.
Die Sonne schien gnädig, es war zwei Uhr. Sie hatten zweieinhalb Stunden Zeit, die Insel zu erkunden. Sofort wandten sie sich dem Oberland zu, die senkrechte Felswand vor sich. Die Eltern nahmen den Fahrstuhl, die Jungen rannten den Zickzackweg nach oben, zwei Stufen auf einmal. Sie waren sogar schneller oben als Selma und Paul, wenn auch außer Atem. Die hatten auf den nächsten Aufzug warten müssen.
Kinder boten Muscheln und Seesterne an. „Nur 10 Pfennige das Stück!“ Ernst wurde weich. Von oben ein zauberhafter Blick, tiefgrünes Wasser ringsum, die Sanddüne mit dem Badestrand, die Hafenanlagen. Auf dem Ankerplatz große Schiffe, von den kleinen Booten eifrig besucht, die Leute hin- und hertransportierten.
Die Zeit reichte nur für ein kurzes Picknick im Gras. Ernst musste noch mit dem Beefsteak in der Hand seinen Rucksack schultern, dann noch ein kurzer Weg entlang der schmalen Straße direkt am Abgrund, dem Falm, noch ein Foto, und schon ging es wieder abwärts, die Treppe hinunter. Auf dem Unterland kleine Fischerhäuschen, die großen Netze am Zaun zum Trocknen aufgehängt. An der Kaiserstraße war das Angebot an preiswerten Waren in den vielen kleinen Läden sehr verlockend. Jeder kaufte noch schnell ein Andenken oder Wollwaren. Marie zog ihren Pullover gleich über, aus Angst vor der Zollrevision.
Die Landungsbrücke war mit den Fahnen aller Nationen geschmückt und von allen Seiten kamen Menschen, die auf das Schiff zurück wollten. Ein letzter Blick. Kräftige Hände halfen beim Einstieg. Einer umfasste Maries Hüfte und hievte sie mit Schwung ins Boot, das taten sie gern bei jungen Mädchen. Draußen wartete schon der Dampfer, es war der „Kaiser“, die Cobra war weiter nach Sylt gefahren.
Schon an Bord, gerade wollte man zum Oberdeck hinaufsteigen, empfing sie ein donnerndes „Halt! Zollrevision!“ Marie mit ihrem kleinen Rucksäckchen ließ man mit einer Handbewegung passieren, aber Ernst erregte mit seinem Riesengepäck auf dem Rücken ihre Aufmerksamkeit. Er beteuerte hoch und heilig, nichts schmuggeln zu wollen, und wirklich, die Beamten ließen ihn vorbei. Er behauptete später, das sei seinem sympathischen Dialekt zu verdanken. „Ein Wiener ist halt überall gern gesehen.“ Auch Paul kam mit seiner kleinen Packung Zigarren in der Innentasche der Jacke ungeschoren davon.
Die vier ergatterten eine schönen Fensterplatz. Paul bestellte ein Bier, Selma und Marie bekamen einen Kaffee und Ernst eine Schokolade. Die Kapelle intonierte einen schneidigen Marsch und langsam setzte sich das Schiff in Bewegung. Die Insel wurde zusehend kleiner, dann blieben auch die Möwen weg. Man war wieder allein mit Neptun auf hoher See. Alle waren jetzt müde, genossen die Ruhe im Liegestuhl oder schrieben Postkarten. Marie und Ernst standen auf dem Achterdeck und schauten in die Wogen. Jeder mit seinen Gedanken, die baldige Trennung vor Augen. Große Frachtdampfer mit zwei oder gar drei Schornsteinen zogen vorbei, dicke Rauchfahnen ausstoßend. Nach dem vierten Feuerschiff kam Cuxhaven in Sicht.
Marie und Ernst wollten hier einen Tag allein verleben, während die Eltern zu Onkel Fritz in Hamburg weiterfuhren. Paul gab seinem Herzen einen Stoß, nachdem Selma ihn ihrerseits angeschubst hatte und Marie hoch und heilig versichert hatte, brav zu bleiben. Das Winken nahm kein Ende, als gelte es für Monate Abschied zu nehmen. Dann waren die zwei allein.
Das Abendbrot nahmen sie in einer Fischbratküche ein, dann gingen sie auf Quartiersuche. Hier erfuhren sie, dass am Strand die alljährlich am 11. August vom Reichsbanner organisierten Verfassungsfeiern stattfänden. Zwar waren sie müde von der ungewohnten Seeluft, aber das wollten sie sich nicht entgehen lassen. Die Straßen wimmelten von Menschen, hauptsächlich junge fesche Marineschüler mit ihren weißen Mützen und blauen Bändern. Marie äugte mal hier mal da hin, während Ernst sachkundigen Blickes die einheimischen Mädel begutachtete. Im Pavillon spielte eine Militärkapelle, die zum Tanzen einlud. Die Umzüge interessierten sie weniger, da sie zu sehr politisch aufgezogen waren. Zehn Uhr mussten sie im Quartier sein und jeder ging brav in sein Zimmer, um sofort einzuschlafen.
Am Tag darauf wanderten sie zum Strand nach Duhnen und auf dem Weg dorthin passierten sie etliche Truppenübungsplätze. „Photographieren streng verboten!“ Es fanden gerade Feldübungen mit leichten Geschützen und schweren Kanonen statt, die im Sand teilweise eingegraben waren. Sie sahen eine Weile zu, dann wanderten sie weiter. In Dunen herrschte lebhafter Badebetrieb, Strandkörbe wurden herangeschleppt und die ersten Badegäste breiteten ihre Handtücher aus. Das Motorboot zur Insel Neuwerk war leider schon weg und der Pferdewagen fuhr erst am Nachmittag. Langsam und still liefen sie weiter am Strand entlang. Das plätschern der Wellen war der einzige Laut, der die Stille unterbrach.
Sie legten die Zeltplane hinter einem Holzstoß aus, windgeschützt. Die Flut ging langsam zurück und hinterließ einen kahlen Strand. „Du, Marie, kommst du mit baden?“ „Nö, das ist mir noch zu kalt, aber ich werde dich ein Stück begleiten.“ Sie wanderten über eine halbe Stunde lang, ohne das davoneilende Wasser einzuholen. Nur tote Fische, Krabben und Muscheln hatte es zurückgelassen und die Möwen zankten sich darum. Dann hatte Marie keine Lust mehr und ließ Ernst allein weiterziehen, der unbedingt einmal im Meer schwimmen wollte.
Sie ging zurück und ließ sich am Holzstoß in der prallen Sonne braten. Wieder schweiften ihre Gedanken um ihr Verhältnis zu Ernstl. Ein guter Kamerad war er, aber als Mann? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Mentalität und Charakter waren doch zu verschieden. Sie hatten es durch Alberei überspielt. Vielleicht war sie auch einfach noch zu jung. Noch nicht einmal volljährig. Papa hatte ihr erklärt, als sie mal allein waren, dass Ernst zwar riesig nett sei, aber Alltag und Urlaub seien ein paar verschiedene Schuhe. In Wien würde sie in einen völlig anderen Kulturkreis kommen. Ob das wohl gut ginge? Er hatte ja Recht. Das Leben lag noch vor ihr. Die Gedanken verlangsamten sich… sie musste wohl eingeschlafen sein.
„Hallo, melde mich gehorsamst zurück! Das Wasser war wundervoll, gar nicht kalt und erfrischend.“ Jetzt hatte er Hunger und die salzige Luft hatte auch Maries Appetit angeregt. Die mitgebrachten Vorräte waren bald aufgefuttert. Alles wurde eingeräumt und verschnürt, dann ging es zurück nach Duhnen und Cuxhaven. Am Bahnhof mussten sie feststellen, dass der nächste Zug nach Hamburg erst in drei Stunden ging, also war noch Zeit, das Nachmittagskonzert am Strand aufzusuchen, der Musik zu lauschen und aufs Meer hinaus zu schauen. Schiffe zählen. Möwen füttern. Im Sand Figuren ritzen.
Am nächsten Tag, dem letzten, durchstreiften die zwei noch einmal Hamburg. Sie gingen in den „Michel“, Hamburgs Hauptkirche und Wahrzeichen, die nach dem verheerenden Brand von 1906 in alter Form wieder aufgebaut war. Danach besuchten sie das Museum „Alt Hamburg“ und bestaunten die Sammlung alter Trachten, Schiffs- und Hausmodelle. Mit der Hochbahn fuhren sie für 20 Pfennig um die ganze Stadt herum und landeten schließlich im Hafen. Es war ein trauriges Bild, all die vielen Schiffe müßig und arbeitslos vertäut. Nur ein Dampfer, die „Antonio Delfino“ verließ mit Schlepperhilfe den Ankerplatz. Zum Schluss fuhren sie bei einer Hafenrundfahrt bis dicht an die großen Überseeschiffe heran.
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