E. E. Kisch DER MÄDCHENHIRT
Ganz unvermutet, ganz plötzlich platzte das Manometer.
Bevor noch das Entsetzen mit seinem lähmenden Arm die Heizer zu berühren vermochte, barst der Kessel mit einem grauenhaften, die ganze Stadt erschreckenden Aufschrei.
Auf dem Verdeck an das Holzhäuschen gelehnt, in dem sich die Schiffskasse befand, hatte Engelbert Naak eben zu Karl Duschnitz etwas Belangloses gesagt, die beiden Worte »Musikkapelle spielen« gesprochen, als die Detonation ertönte.
Im selben Augenblick begann das Grausen, die rasendste Orgie. Ein Knabe, die Botanisiertrommel umgehängt, wurde in schnurgerader Linie gegen ein Haus des Kais geschleudert, prallte vom Balkon des ersten Stockwerkes ab und sauste als Leiche auf das Trottoir; um seinen verstümmelten Rumpf schlang sich schräg die grüne Schleife mit der Botanisierbüchse. Auf die Fahrbahn des Kais fiel der Kopf eines jungen Mannes, in dem man später Mathias Blecha erkannte. Marcel Bleyer, der wohl in unmittelbarer Nähe des schadhaften Kessels gestanden war, wurde in hundert Stücke gerissen. Die meisten Leute, darunter Robert von Dirnböck, den man bald unter den zusammengebrochenen Trümmern des Dampfers »Caput regni« als Leiche hervorzog, und Engelbert Naak, den man erst neun Tage nach der Katastrophe bei Melnik aus dem Flusse fischte, waren in das Wasser geschossen worden. Andere verbrühten sich an den glühenden Dämpfen, die grau und rot über die Bretter des Wracks züngelten. Anderen wurden die Rippen und Gliedmaßen gebrochen, als sie inmitten der dichten, atemberaubenden Rauchwolke, inmitten von Besinnungslosigkeit, Wehklagen, Hilferufen, Stöhnen, Wahnsinn und Schreien die schmale Steinstiege zu erklimmen versuchten, die vom Landungsplatz des Moldauniveaus zum Kai hinaufführt. Wieder andere – Fritz Fritz, der acht Tage später unter gräßlichen Fieberqualen starb, war unter diesen – wurden von den schwarzen Trümmern des Schiffskamins getroffen, die zunächst wie aus einem Krater in die Höhe des Kaigeländes emporgestoßen worden waren, oben als Papierschnitzel im Wirbelwind kreisten und dann in einem verderbenbringenden Sprühregen auf das Wrack, die Landungsbrücke, den Anlegeplatz und in den Fluß, auf Passagiere und Schiffsbedienstete in den Qualm zurückfielen, Köpfe zerschmetternd, Gesichter von der Stirn zum Kinn aufreißend.
Karl Duschnitz war unter den Geretteten. Auch er war in langem Bogen aus dem Dampfer geschleudert worden, mitten in den Fluß. Neben der Stelle, an der er auftauchte, schwamm ein zerbrochener Tisch des zertrümmerten Schiffes. An diesem hielt er sich mechanisch achtundzwanzig Minuten fest. Während dieser Zeit vergegenwärtigte er sich gar nicht, was geschehen war, die Worte »Musikkapelle spielen«, die Engelbert Naak zuletzt gesprochen hatte und wegen irgendeines Lärms nicht zu einem Satze vollenden konnte, klangen ihm in den Ohren, er wiederholte: »Musikkapelle spielen« und sah irgendeine blaugraue, dichte Wolke auf dem Wasser. Ganz apathisch hielt er sich an der Planke fest, an deren Ecke ein in der Hälfte zerbrochener Tischfuß war. Ihm fiel gar nicht ein, daß er um Hilfe schreien solle. Allerdings hätte ihm dies nichts geholfen, weil er in der Mitte des Stromes schwamm, zu weit vom Ufer, als daß man in dem Gekreisch, Gestöhne, Geächze und Lärm seine Stimme zu hören, ihn inmitten des Tohuwabohus von schwimmenden Leichen, Balken, Bänken, Gliedmaßen, Tüchern, Papieren und Hüten zu sehen vermocht hätte. Aber er bedachte weder die Zweckmäßigkeit noch die Unzweckmäßigkeit eines Versuches, sich bemerkbar zu machen, sondern krampfte seine Hände um die Ränder der Bretter und dachte nach, wie der von Engelbert Naak jäh abgebrochene Satz zu beenden sei.
Duschnitz wurde gerade dadurch gerettet, daß er in der Mitte der Moldau war. Denn so bemerkte ihn der Flößer Johannes Chrapot, der von seinem Häuschen auf der Insel Kampa, also vom linken, dem entgegengesetzten Ufer, zur Unglücksstätte hinruderte, zuerst. Der Flößer packte Karl beim Oberarm und versuchte, ihn in den Kahn zu ziehen. Das mißlang, weil Karl Duschnitz mehr tot als lebendig war und keine Anstrengung machte, seinem Retter behilflich zu sein. Er hielt sich noch immer an dem Brett fest. Da zog Chrapot die Ruder ein, beugte sich über den Rand des Kahnes, packte den Halbtoten, der nun endlich die Planke losließ, um die Hüften und hob ihn – fast wäre die Nußschale umgekippt – in das Innere des Schiffchens. Dort sank Karl Duschnitz ohnmächtig hin. Chrapot ruderte nun, so schnell er konnte, zur Insel Kampa zurück.
Hier standen schon Hunderte neugierig Erregter. Gleich nach der ungeheuren Detonation waren die Bewohner der Insel Kampa naturgemäß an das Ufer geeilt, wo sich ihnen ein weiter Ausblick auf das jenseitige Prag und auf den Fluß öffnet. Hier konnten sich jene, die schon ein Erdbeben, wenn nicht gar das Hereinbrechen des Jüngsten Tages angenommen hatten, überzeugen, daß Prag noch auf dem alten Fleck stehe, und die steilen Rauchwolken, die sich in der Gegend der Palackybrücke in den Himmel reckten, belehrten, woher der unheimliche, geheimnisvolle Krach gekommen war. In dieser Richtung jagten die sich aufbäumenden Pferde des Löschtrains, in dieser Richtung fuhren auch drüben am Kai die Rettungswagen, deren Lenker bedeutungsvoll pfiffen. Die Männer stiegen in ihre Fischerkähne und fuhren in der Richtung der Qualmwolke ab, ihre Weiber schrien ihnen, stolz, eindringlich und die Aufmerksamkeit auf sich lenkend, Warnungsrufe nach. Aber niemand wußte, was geschehen sei. Dynamitattentat, Einsturz der Palackybrücke, Brand einer chemischen Fabrik? Bis endlich von der Brüstung der Karlsbrücke ein Kampa-Bewohner das aufklärende Wort hinunterrief, das ein Feuerwehrmann einem Polizisten zugerufen hatte: Dampferexplosion. Nun gewannen die Mutmaßungen greifbarere Formen. Es mußte, das war schon nach der Detonation zu schließen, eine gräßliche Katastrophe gewesen sein, der Requisition von Feuerwehr und Rettungsambulanz konnte man entnehmen, daß es auch Tote gegeben habe. Außerdem war Pfingstsonntag, der rechte Tag für Ausflügler – man konnte sich die Größe der Katastrophe ausmalen. Der Erörterungen und Erwägungen wurde erst ein Ende, als man den Flößer Chrapot hastig rudernd zur Kampa zurückkommen sah und bald darauf erkannte, daß in seinem Kahn ein Mensch liege.
War schon früher die Gefahr vorhanden gewesen, daß von den Neugierigen, die zu Hunderten auf der durch keinerlei Geländer geschützten Böschung zwischen der Rolandstatue und der Kampa-Realschule schräg standen, sich quetschten, drängten und stießen, jemand in das Wasser gestoßen werde, so steigerte sich die Gefährlichkeit der Situation noch, als man des Flößers Chrapot ansichtig wurde; die Männer und Burschen wollten an den Rand der Böschung hinunter, um dem Herankommenden beim Landen behilflich zu sein, die Frauen und Kinder, die vorne standen, wollten teils aus Neugierde nicht Platz machen, teils konnten sie sich wirklich nicht von der Stelle rühren, da sie eingekeilt waren. Schließlich kam Ordnung in die wogenden und schiebenden Reihen, es gelang einem Flößerburschen, die am Kiel des Chrapotschen Kahnes hängende Kette zu erfassen und das Boot fest an das Land zu ziehen.
Einige waren behilflich, den Bewußtlosen aus dem Boot zu heben, und trugen ihn zu Chrapots Wohnung. Dorthin war inzwischen auch das Weib des Flößers gekommen. Sie sperrte die Türe zu dem Zimmer auf, das links neben der Küche war, und man legte den Fremden auf den Tisch. Die Stube war voll von Neugierigen, und auch auf der Stiege drängten sich solche. Chrapot schob alles zum Hause hinaus und machte sich dann daran, den Bewußtlosen zum Leben zu erwecken. Kaum hatte er die Schläfe Karls eingerieben, als dieser die Augen öffnete und tief aufatmete. »Leg ihn zu Bett und heize ein«, sagte der Flößer und entfernte sich eilig, um von neuem zur Unglücksstätte hinzufahren. Auf die Widerrede seines Weibes hörte Johann Chrapot nicht.
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