Diese Prophezeihung wiederholt die Betka dem Jarda mit selbstgefälliger Miene, und Jarda, dem unklar die Überzeugung aufdämmert, daß der Begriff »ein großes Luder«, den er bisher nur als Schimpfwort vernommen hat, etwas sehr Schönes und Erstrebenswertes sein müsse, zweifelt nicht einen Augenblick daran, daß die Betka Dvořak ein großes Luder werden wird. Was die heute schon alles kann! Sie weiß sich aus Papier eine Haareinlage zu falten und ein Toupet zu kämmen, sie lehrt die vor Staunen erstarrten Kampa-Mädel, wie man sich mit einem eben verlöschten Zündhölzchenkopf tiefschwarze und gewölbte Augenbrauen malen kann, sie tanzt alle Tänze, und vor allem weiß sie tausend ungeahnte Dinge, die sie aus den Gesprächen ihrer Schwester aufschnappt.
Mit diesen Kenntnissen hat die Betka längst allen Kampa-Kindern Respekt eingeflößt.
Die kleine Luise Hejl, die neben dem hinkenden Adalbert vielleicht die sklavischste Anhängerin Jardas und immer hinter ihm her ist, hat auch für Betka eine Miene der Bewunderung.
Auch dem Jarda würde die Betka imponieren, wenn er nicht fühlen würde, daß er ihr selbst imponiert.
Sie fühlte es bewußter als alle anderen, daß er etwas Nobleres ist als die Lausbuben von der Insel Kampa; vor allem gefallen ihr seine besseren Kleider. Anfangs hatte sie ihre Zuneigung für ihn hinter überlegener Kälte zu verbergen versucht, aber als sie gesehen hatte, wie die anderen Mädel ihm nachstellten, wie sie ihn baten und bettelten, daß er mit ihnen Schlittschuh laufen möge, während die anderen Burschen die Mädchen vergeblich aufforderten, wie sie nur ihn jagten, wenn man »Baba« spielte – da hatte sie sich entschlossen, den Kampf um Jarda aufzunehmen. Sie wußte, wie fieberhaft er zuhorchte, wenn sie die Gespräche ihrer Schwestern wiedergab, und so nahm sie ihn beiseite, wenn sie etwas Feines erlauscht hatte, und teilte es ihm, statt es zwecklos coram publico vorzubringen, als ein Geheimnis mit.
Kam Luise Hejl ihnen nachgelaufen, um bewundernd und stumm den Gesprächen ihrer beiden Idole zuhören zu können, dann verweigerte es ihr Betka: »Ich habe mit Jarda ein Geheimnis zu besprechen.«
Jarda dreht sich mit einem knappen Blick des Mitleids nach Luise um, die ihnen mit Schmerz, Enttäuschung, Neid und feuchter Trübung der Augen nachschaut.
Beim Schlittschuhlaufen ist Betka fast immer Jardas Partnerin. Wenn er mit einer anderen schleift oder einer anderen seine beneideten »Halifax«-Schlittschuhe borgt, so geschieht es gewöhnlich nur auf Bitten eines abgeblitzten Bewerbers und unter der Bedingung, daß die von Jarda Ausgezeichnete von nun ab mit dem Abgewiesenen schleifen werde.
Am Abend pflegt Jarda mit Betka an der Moldauböschung unter der Karlsbrücke zu sitzen, und sie besprechen, wie es die Betka anstellen werde, um ein großes Luder zu werden.
Oder sie kriechen über das Gitter in die Odkolek-Anlagen und erörtern, in einem Strauch versteckt, ob Betkas Schwester, die Anna, im Recht gewesen sei, wenn sie nicht mehr mit dem Freunde des Fabrikanten gehen wolle, obwohl er ihr dafür Geld gebe.
Karl Duschnitz hatte nichts mehr zu fürchten gehofft. Das war während seiner Zeit am Meere in all seiner Unruhe die einzige Ruhe gewesen: daß ihm nach jener vielfachen Katastrophe nichts mehr genommen werden, nichts mehr widerfahren könne. Der ihm damals bevorstehende Weg zu dem Flößer war ihm wohl als etwas unendlich Peinliches erschienen, aber schließlich war immerhin in dem äußerlichen Umstand, daß dieser Mann von dem Vertrauensbruch in seiner Stube niemals etwas erfahren könne und ahnungslos die Belohnung als Dank für eine Lebensrettung glücklich entgegennehmen werde, eine Möglichkeit zu diesem Wege gewesen. Doch für Karl Duschnitz war noch Furchtbareres gekommen: die Mitteilungen der Flößersfrau, daß ihr Mann alles wisse und daß sie ein Kind bekommen werde. Ein Kind. Sein Kind. Die schauerlichste Stunde seines Lebens, seine einzige und seine schuftigste Tat, wollte in einem Menschen fortleben, in seinem Kind.
Daß der Flößer Chrapot so glatt abgefunden war, kam für Karls Gemütszustand natürlich gar nicht in Betracht. Duschnitz fürchtete das Kind, und im wollüstigen Eifer des Sich-selbst-Zerwühlens legte er sich dar, daß es nur die tausend Gulden waren, deren Empfang dem Flößer die Besinnung geraubt hatte; und nun werde ihm das Kind die Besinnung wiederbringen. Das Kind werde den Flößer immer und immer wieder zur zähneknirschenden Erkenntnis zurückrufen, daß er ein Narr gewesen sei, irgendeinen Ertrinkenden mit Mühe vom Tode zu retten und nach Hause zu tragen, damit ihm der gleich bequem sein Weib nehmen, sein einziges Glück vernichten, sein Heim schänden und dann gemächlich fortgehen könne. Duschnitz haßte und fürchtete das Kind.
Er rechnete die Wochen und Tage aus, dachte an Totgeburten und träumte von toten Kindern. Bis einmal der Flößer Chrapot zu ihm kam, ihm zu sagen, daß das Kind ein Knabe sei. Chrapot brummte noch etwas von »Taufe« und »morgen« und »Ehre sein«, aber Karl Duschnitz stierte ihn nur an, und um seine Augen tanzten Fötusse, zu frohem, ewigem Leben erwacht, und zeigten mit den Armen auf ihn. Es dauerte, bis er sich ermannte und dem Flößer Geld gab.
Von diesem Tage an war Duschnitz völlig zum Einsiedler und Sonderling geworden. Er verließ seine Wohnung in der Rittergasse nicht mehr, kleidete sich gar nicht an, sondern saß im Schlafrock jahrein, jahraus, Tag und Nacht am Fenster und sprach mit sich selbst. Manchmal kamen Verwandte oder alte Freunde der Duschnitzschen Familie und versuchten ihm diese Lebensweise auszureden. Aber er erwiderte nur kurz, daß er so zufrieden sei. Man mußte ihn kopfschüttelnd seinem Schicksal überlassen.
Hie und da kam der Flößer Chrapot, von seiner Frau geschickt, unter irgendeinem Vorwand, mit irgendeiner Anfrage, wie es Herrn Duschnitz gehe, irgendeinem Bericht, daß der Junge unwohl sei oder dergleichen. Duschnitz nahm das schon als etwas Selbstverständliches hin und gab dem Flößer immer ein Geldgeschenk.
Und einmal kam die Chrapotin selbst. Ihr Gast von damals war ihr selbst in den sechs Jahren, da sie ihn nicht gesehen hatte, in der Erinnerung sozusagen verklärt worden, sie hatte ein Sehnsuchtsgefühl nach dem feinen Herrn, der ihr das Glück ins Haus gebracht hatte, den Jungen, den Reichtum und den Neid der Nachbarn. Sie wollte ihn wieder einmal sehen und auch den Jaroslav dort einführen, damit er statt ihres Mannes, der oft auf der Floßfahrt war und immer kränker wurde, die Gänge zu Duschnitz machen könne.
Jaroslav hatte gerade ein Zeugnis nach Hause gebracht. Es war nicht schlecht, weil der Lehrer manche Fehler und manche Faulheit des Jungen seiner Unkenntnis der deutschen Unterrichtssprache zugeschrieben hatte. Frau Chrapot zog nun dem Jungen seinen neuen Anzug an, kämmte und wusch ihn eifrig, putzte sich selbst möglichst heraus und ging zu Duschnitz, um ihm den Jungen zu zeigen, daß der Junge in die deutsche Schule gehe und gute Fortschritte mache. »Wir gehen jetzt zu einem sehr noblen Bekannten, sei recht artig dort«, schärfte sie dem Kleinen ein.
So empfing Duschnitz den Besuch der zwei Menschen, die er haßte und fürchtete. Es war die Furcht, die ihm Fragen nach dem Familienleben der Chrapots diktierte, es war die Hoffnung, zu erfahren, daß sein Besuch nicht jenen Zerfall des häuslichen Glückes hervorgerufen hatte, wie er ihn sich ununterbrochen ausmalte. Aber die Chrapot war viel zu schlau, um ihm die Wahrheit zu sagen: »Na, das können Sie sich denken, daß er mir das jede Weile vorwirft.«
Duschnitz überlief ein klammernder Schauer: »Und wie ist er zu dem Jungen?«
»Er kann ihn nicht leiden«, log die Chrapot.
»Weil er ihn an das Vorgefallene erinnert?«
»Ja, ja.«
Meidend suchte der gebückte Kopf Duschnitz’ die Augen seines Sohns, suchte in ihnen die Spuren seiner Leiden, suchte in ihnen die Leichen seiner Freunde, eine umklammerte Schiffsplanke, einen glücklichen Flößer und einen geilen Frauenblick und ein zerfleischtes Familienglück und einen zerstörten Glauben an das Wunder.
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